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Die Tochter des Schmieds

Die Tochter des Schmieds

Titel: Die Tochter des Schmieds
Autoren: Aufbau
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nicht verbergen:
    – Das sind harte Worte, nicht wahr?
    Sie kann erlittene Ungerechtigkeiten und Schmerzen nicht vergessen. Weder die großen wie jene, als ihre Mutter sie geschlagen
     hat, weil sie glaubte, Gül hätte den Joghurt gegessen. Noch die kleinen wie Levents Worte. Und sie genießt es, wenn sie glaubt,
     daß die Dinge zurechtgerückt werden. Statt selber den Mund aufzumachen, leidet sie lieber im stillen. Wofür soll man schon
     aufstehen in einer Welt, die nichts Gutes für einen bereithält. Sie duldet, während Melike kämpft und Sibel am liebsten in
     ihre eigene Welt flieht.
    |300| Gül muß verstohlen lächeln, als Levent zurechtgewiesen wird, selbst der kühle Herbstwind kann ihrem Lächeln nichts anhaben,
     doch abends eröffnet Fuat ihr:
    – Ich werde nach Deutschland gehen. Dort kann man gutes Geld verdienen.
    – Bitte?
    – Ich werde nach Deutschland gehen. Für ein Jahr. Dort spare ich, und wenn ich zurückkomme, mache ich hier mein eigenes Geschäft
     auf.
    – Was denn für ein Geschäft?
    – Ich weiß es noch nicht. Aber man muß Kapital haben, Geld zieht Geld an. Und wir haben nichts.
    – Ich werde allein hierbleiben?
    – In diesem Haus ist man doch nie allein. Und es ist nur für ein Jahr, es wird schneller vorbeigehen als meine Militärzeit.
    Da hatte ich auch noch nicht zwei Kinder, denkt Gül, sieht aber zu Boden.
    – Und wenn ich wieder da bin, werden wir uns keine Gedanken mehr machen müssen, ob die Kohlen und das Holz den Winter über
     reichen oder ob wir uns wieder etwas leihen müssen.
    – Jeder geht jetzt nach Deutschland, sagt Gül.
    – Ja, es ist ein gutes Land, es ist sauber, und man kann dort Geld verdienen. Die reiten nicht mehr auf dem Rücken von Eseln,
     das sind zivilisierte Menschen. Und unsere Freunde aus alten Zeiten.
    Nachdem Fuat sich entschlossen hat, sind die Formalitäten schnell erledigt, und acht Wochen später bringen sie ihn zum Zug.
     Die ersten verfrühten Schneeflocken schmelzen in den Haaren, Gül weint, während sich Ceyda an ihr Bein klammert, verwirrt
     von den Tränen ihrer Mutter und der großen Menschenansammlung.
     
    Es ist ein einsamer Winter für Gül. Wären da nicht ihre Töchter, würde sie noch viel mehr Stunden damit verbringen, in ihrem
     Zimmer an die Wand zu starren. Jetzt sind Suzan und |301| Fuat fort. Öfter als vorher geht Gül ihren Vater in der Schmiede besuchen. Meistens hat sie Ceren auf dem Arm, doch sie kommt
     nicht auf die Idee, sich vom Schmiedefeuer fernzuhalten, damit es ihrer Kleinen nicht zu heiß wird und sie keinen Schock bekommt,
     wenn es wieder in die Kälte geht. Und so schwitzt Ceren am Schmiedefeuer, und sobald sie draußen sind, fängt sie an zu weinen,
     und Gül lächelt bei dem Gedanken, daß das Kind gern in der Nähe seines Opas ist, aber Ceren wird sich den Winter über immer
     wieder erkälten. Herr, lasse meine Töchter gesund aufwachsen, mit Vater und Mutter, bewahre sie vor Unbill, ach Herr, dein
     Wille geschehe. Gib mir die Kraft, mein Schicksal zu erfüllen, betet Gül fast täglich.
    Abends sitzt Gül häufig im Dunkeln, hört Ceydas leises Atmen, während Cerens Lungen oft rasseln. Manchmal ist sie kaum fähig,
     sich zu bewegen. Ich müßte mal auf das Klo, denkt sie, dann schweifen ihre Gedanken wieder ab, zum Traum der letzten Nacht,
     zu ihrer Mutter, zu Melike oder Sibel oder Fuat, zu einer Erinnerung, an den Siebmacher oder daran, wie Suzan auf der Hochzeit
     geweint hat, und wenn ihre Gedanken das nächstemal bei ihrem Körper ankommen, ist der Druck in ihrer Blase, den sie zwischenzeitlich
     ganz vergessen hatte, stärker geworden.
    Fuat schreibt weniger als in seiner Militärzeit und erklärt das damit, daß er so viel arbeiten muß. Er ist in einem Ort, der
     Delmenhorst heißt, und weil beides mit D anfängt, stellt Gül sich immer vor, daß es in der Nähe von Duisburg liegt, wo Suzan
     jetzt wohnt. Von ihr erhält Gül regelmäßig Briefe.
    Suzan und Murat wohnen in einem Haus mit lauter italienischen Familien, aus deren Küchen es den ganzen Tag nach Essen riecht,
     auch nach Olivenöl und Knoblauch, und Suzan hat angefangen, Italienisch zu lernen. Die Deutschen reden eh so wenig, da lohnt
     es sich nicht, wenn man ihre Sprache lernt, schreibt sie. Es gefällt ihr in Deutschland nicht, es ist kalt, kälter als zu
     Hause, die Menschen sind distanziert, nirgendwo wird sie angelächelt, nirgendwo fühlt sie sich willkommen, |302| doch Murat möchte dort bleiben, für immer,
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