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Die Tochter des Schmieds

Die Tochter des Schmieds

Titel: Die Tochter des Schmieds
Autoren: Aufbau
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wenn es geht. Er will nie wieder in die Türkei zurück, in dieses Land von Halsabschneidern,
     wie er sagt. Die Kinder gehen auf eine deutsche Schule, und Suzan hofft, daß sie bald soweit sind, für sie dolmetschen zu
     können. Doch schon zwei Jahre später wird die Familie in Neapel wohnen, und sowohl Murat als auch Suzan werden zufrieden sein
     mit ihrem Leben.
    Gül weiß nicht so genau, was sie Suzan schreiben soll. Sie sitzt vor dem unlinierten Papier mit dem leichten Gelbstich, einen
     Bleistift in der Hand, und überlegt. Sie hat gekocht, gewaschen, gespült, sie hat mit ihrer Schwiegermutter geredet und Ceren
     die Windeln gewechselt, Ceyda ist letzte Nacht dreimal aufgewacht, obwohl sie sonst immer durchschläft, Ceren ist schon wieder
     krank geworden, aber nichts davon erscheint Gül interessant genug, um es aufzuschreiben. Und so sitzt sie da, mit dem Stift
     in der Hand, und denkt an den Film, den sie letzte Woche gesehen hat, und daran, wie leer ihr Leben ihr vorkommt. Ein Leben,
     in dem nichts geschieht, ein Leben in einem Zimmer in der Kälte und der Einsamkeit des Winters, ein Leben, in dem die Schreie
     der Kinder wie Blütenblätter wirken.
     
    – Du hast noch mehr zugenommen, Gül, oder? fragt Zeliha, als Gül das Zimmer betritt. Gül schaut ihre Großmutter verständnislos
     an, als könnte die alte Frau das sehen.
    – Deine Schritte klingen schwerer.
    – Ja, sagt Gül etwas eingeschüchtert. Ich habe zugenommen.
    Sie geht zu ihrer Großmutter, küßt ihr die Hand und führt sie an die Stirn.
    – Deine Töchter hast du zu Hause gelassen?
    – Ja.
    – Das ist gut. Ich ertrage keine lärmenden Kinder mehr.
    – Großmutter, ich wollte mich verabschieden.
    – Die Wege mögen dir offenstehen, sagt die alte Frau, aber es klingt nicht so, als würde sie es meinen. Ins Land der Ungläubigen
     gehst du also. Heute gehen alle ins Land der Ungläubigen, als gäbe es dort etwas. Sind die etwa besser als wir? |303| Was wollen all die Menschen in der Fremde? Aber geh nur, mein Kind, geh nur, der Herr möge dich segnen.
    Es ist der Tag vor Güls Abreise. Ein Frühling, ein Sommer, ein Herbst und ein zweiter Winter sind vergangen, seitdem Fuat
     in Deutschland ist. Regelmäßig hat er Geld geschickt, und im Sommer ist er fast vier Wochen dagewesen. Doch die Wochen vergingen
     so schnell, daß sie Gül hinterher vorkamen wie ein Traum. Ein Traum, in dem Fuat jeden Abend betrunken heimkam und sie geweckt
     hat. Er hat gestaunt über die Worte, die Ceyda gesprochen hat, er hat gestaunt darüber, daß Ceren schon laufen kann, doch
     es war genau das: Staunen. Es hat ihn nicht mit Schmerz erfüllt, wenn Gül das richtig gesehen hat, und genausowenig wird es
     sie mit Schmerz erfüllen, wenn sie ihre Töchter jetzt zurückläßt, hofft Gül.
    Es soll nur für ein Jahr sein, ein weiteres Jahr, in dem sie zu zweit Geld verdienen wollen. Die Ersparnisse würden noch nicht
     reichen, hat Fuat gesagt, als er im Sommer da war. Sie werden sehr lange nicht reichen, jahrelang, und wenn er schließlich
     ein eigenes Haus hat bauen lassen, eins mit europäischen Toiletten, mit Wannenbad und Heizung, mitten in der Stadt, in der
     er aufgewachsen ist, werden sie fast vergessen haben, daß sie zurückkehren wollten in die Türkei. Längst werden sie ihre Töchter
     nachgeholt haben, die in Deutschland aufwachsen, dort zur Schule gehen, heiraten und Kinder kriegen werden. Sie werden ihre
     Rückkehr immer wieder so lange in eine unbestimmte Zukunft verschoben haben, bis sie selbst nicht mehr daran glauben, bis
     sie sich schließlich eingestehen, daß sie wahrscheinlich für immer in Deutschland bleiben werden, bei ihren Kindern und Enkeln.
    Aber das kann niemand ahnen, als Gül bei ihrer Großmutter ist, um sich zu verabschieden. Vielleicht sehe ich sie zum letzten
     Mal, denkt Gül, und dieser Gedanke wird ihr noch oft kommen in den nächsten Jahren, bei verschiedenen Menschen, und es wird
     ihr zur Gewohnheit werden, beim Abschied zu weinen, weil dieser Gedanke sie nicht mehr verläßt.
    Gül kann sich nicht verabschieden von Melike, die ihr im |304| Sommer von Mert erzählt hat, mit dem sie ausgeht. In dem Sommer, der vor ihnen liegt, dem Sommer, den Gül in Deutschland verbringen
     wird, will Melike Mert mit heimbringen, um ihn ihren Eltern vorzustellen, die noch nicht wissen, daß ihre Tochter in Istanbul
     mit einem Mann ausgeht. Gül hat als erste von ihm erfahren, aber sie wird ihn als letzte kennenlernen.
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