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Abbey Road Murder Song

Abbey Road Murder Song

Titel: Abbey Road Murder Song
Autoren: William Shaw
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eins
    »Warum bist du nicht gegangen, als ich’s dir gesagt habe? Bevor wir aus dem Haus sind?«
    Die Frage gilt einem kleinen Jungen in kurzer Hose, der wütend über den Bürgersteig stapft. Seine Nanny, die Haare vom Oktoberwind zerzaust, schiebt den riesigen Silver-Cross-Kinderwagen mit der rechten Hand und zerrt den kleinen Jungen an der linken hinter sich her. Das Baby hat Nee-Noo, den Filzelefanten, verloren und schimpft unter seiner gelben Decke. Sie sind im Park gewesen, wo sie keine einzige andere Nanny getroffen haben. War ja auch viel zu kalt, aber die Mutter der Kinder bestand auf einem morgendlichen Spaziergang vor dem Elf-Uhr-Tee. Sie glaubte an frische Luft und Bewegung, obwohl sie selbst lieber zu Hause blieb, Bonbons lutschte, Patiencen legte und stundenlang telefonierte, als würde es nichts kosten.
    »Ich hab dir doch gesagt, dass du noch mal gehen sollst.« Die Nanny schleppt sich weiter wie ein Krebs, beide Arme ausgestreckt, der eine schiebt, der andere zieht. »Oder etwa nicht?«
    »Aber als du’s gesagt hast, wollte ich nicht.«
    Die Nanny trägt das hässliche marineblaue Cape, das sie nicht ausstehen kann, dazu die schwarzen Halbschuhe mit Quasten, eigentlich was für Omas. Schminke ist nicht erlaubt. Röcke mindestens knielang. Und der liebe Daddy? Kann die Finger nicht bei sich behalten.
    Der kleine Junge, dessen Hand sie in ihrer hält, strahlt bereits die Selbstsicherheit einer Person aus, die weiß, dass eine Nanny nur eine lohnabhängige Angestellte ist – sie bekommt drei Pfund zehn die Woche plus Unterkunft und Verpflegung und darf entsprechend behandelt werden.
    »Ich muss aber jetzt.« Der Junge spricht die Konsonanten deutlich und abgehackt aus, er stammt von Vorfahren ab, die glaubten, Befehle müssten möglichst einfach formuliert werden.
    »Kannst du’s nicht einhalten?« Das erste Herbstlaub weht an den dreien vorbei. »Nur noch fünf kurze Minuten?«
    Der Junge überlegt eine Sekunde lang, dann antwortet er schlicht: »Nein.«
    »Zeig mir, was für ein starker Junge du bist.«
    »Ich bin ein starker Junge, aber ich muss Pipi«, sagt er mit einer für sein Alter zu tiefen Stimme.
    Die Nanny wünscht sich, sie wäre ihren Aufgaben besser gewachsen. Sie ist jung und unerfahren. Die Stelle hat sie nur angenommen, um der englischen Provinz zu entfliehen. Sie hatte sich in der Carnaby Street gesehen, stattdessen war sie in St John’s Wood gelandet bei einem verwöhnten kleinen Jungen in kurzer Wollhose, mit Strumpfbändern und Blazer, dessen Vater ihr an den Hintern grapscht, sobald die Mutter nicht hinguckt. Einsam und von Heimweh geplagt bleibt der 17-Jährigen abends nur Radio Luxembourg, ihr einziges Vergnügen. Das Radio verrät ihr, dass es irgendwo in England Menschen gibt wie sie, und das hält sie davon ab, verrückt zu werden. Gestern Abend hatte der Discjockey »Fire« von The Crazy World of Arthur Brown aufgelegt und sie wünschte, ihre Welt wäre auch so crazy, dass sie in Flammen aufgeht.
    Sonntags hatte sie frei, aber wozu eigentlich? Sonntags war nichts los. An ihrem letzten freien Tag war sie nach Kensington gefahren, um sich die Klamotten in den Schaufenstern der geschlossenen Geschäfte anzusehen. Sie hätte sich sowieso nichts davon leisten können. Oft träumt sie mit offenen Augen, David Bailey würde sie entdecken, er würde sie in wunderschöne Kleider stecken, sie fotografieren und berühmt machen, aber wenn sie wie eine alte Hexe rumläuft, wird sie niemandem auffallen.
    In London zu sein bedeutet nur, dass jetzt all das, was sich außerhalb ihrer Reichweite ereignet, noch stärker in ihr Bewusstsein rückt.
    You’ve been living like a little girl, in the middle of your little world, and your mind, you know you’ve really been so blind, and now’s your time to burn.
    »Was singst du da? Das klingt schrecklich. Hör auf.«
    Hatte sie gesungen? Sie beschließt, den Jungen nicht zu beachten, schiebt den Kinderwagen weiter. Das Baby weint immer noch unter der gelben Baumwolldecke. Es ist fast Essenszeit.
    »Du hast deine Popmusik gesungen. Popmusik ist schrecklicher Krach.« Er ahmt seine Mutter nach.
    In der Sowjetunion ist Popmusik angeblich verboten. Chruschtschow schickt alle, die sie hören, nach Sibirien. In Spanien und Griechenland genauso. Nur dass man da eingesperrt wird. Und die Fingernägel rausgerissen bekommt. Und Miniröcke darf man auch keine tragen. Hier hämmert nur die Mutter an die Tür und verlangt, dass das entartete Geleier
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