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Die Tochter des Leuchtturmmeisters

Die Tochter des Leuchtturmmeisters

Titel: Die Tochter des Leuchtturmmeisters
Autoren: Ann Rosman
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stören.«
    Robban räusperte sich. Ohne wichtigen Grund hätte er nicht angerufen.
    »Spaß beiseite, Robban, was ist passiert?«, fragte Karin.
    »Wir haben zwei Notrufe aus Marstrand bekommen. Der eine betraf eine Leiche ohne Kopf, die oben bei der Festung von einer Schulklasse gefunden wurde, und der andere kam von der Nachbarin einer älteren Dame, die den Kopf in ihrem Garten gefunden hat. Ich dachte, wenn du sowieso gerade in Marstrand wärst, du wolltest doch das Boot dort wieder anlegen …« Als Robban verstummte, konnte Karin im Hintergrund eine zweite Person reden hören.
    »… nicht
wärst
, sondern
bist
. Sie ist in Marstrand.« Die Stimme gehörte Folke, der sich selbst zum Sprachwächterseiner Kollegen auserkoren hatte, was allerdings wenig Anklang fand. Karin lächelte.
    »Begleitet dich Folke nach Marstrand?«, fragte Karin.
    »Nein, ich komme allein, weil er leider zum Arzt muss.« Robban war die Zufriedenheit darüber anzumerken, dass Folke verhindert war.
    »Melde dich, wenn du an Kungälv vorbeifährst, dann treffen wir uns an der Fähre.« Karin zog sich die Schuhe an.
    Beinahe wäre sie über einen windgepeitschten Wacholderbusch gestolpert, der seine Wurzel in einen Felsspalt krallte. Er sah erstaunlich grün und gesund aus. Zäh, dachte Karin. Wenn die Herbststürme aufkamen, würde der Marstrandsfjord auch ihn mit dem Salzwasser bedenken, das dann die Klippen hochspritzte. Eher herb als süß. Der Wacholder erweckte den Eindruck, als breitete er sich aus, um nach einem besseren Halt zu suchen. Wie sie selbst, dachte Karin. Ein wenig haltlos, aber in verhältnismäßig gutem Zustand. Eher herb als süß.
    Sie drehte sich ein letztes Mal um und blickte über das verspielte Glitzern auf dem Fjord, bevor sie zurück zum Hafen ging.
     
    Åkerström, Trollhättan, im Spätsommer 1958
     
    Es war schon später Nachmittag, aber er hatte noch immer nichts zu essen bekommen. Er hatte noch einen aufgesparten Kanten Brot vom Vortag, oder war es der Tag davor? Er weichte ihn in seinem Wasserbecher ein, bis die Rinde nicht mehr so hart war.
    Oben waren den ganzen Tag keine Schritte zu hören. Wie lange sie wegblieben. Sie würden doch bald nach Hause kommen? Niemand sonst wusste, dass im Keller ein kleiner Junge war, der Essen brauchte. Er würde hier unten sterben, wenn ihnen etwas zustieß. Vielleicht würde er sowieso hier unten sterben. Er stieg die steile Treppe hinauf und rüttelte an
der Tür. Dass sie verschlossen war, wusste er, bevor er die Klinke berührt hatte. Die Phasen, in denen er eingesperrt wurde, waren immer länger geworden, aber in einem Winkel seines Herzens hoffte er noch immer, dass die Frau dort oben, zu der er nicht »Mutter« sagen durfte, sondern die er »die Frau« nennen musste, ihn eines Tages aus dem Gefängnis herauslassen würde.
    Er nahm eins der Bücher zur Hand, dessen Bilder er seit langem auswendig kannte. Die Bücherkiste, die von einem früheren Besitzer hier vergessen worden war, war ein Schatz für ihn. Eine ganze Kiste voller Schul- und Kinderbücher, ein Nachschlagewerk von A bis P, das in Leder eingebunden war. Einige Seiten waren von der feuchten Kellerluft fleckig geworden, waren aber immer noch gut lesbar. Er strich mit der Hand über Olle, der durch den Wald lief und Blaubeeren pflückte. Blätterte um und sah, wie der Junge nach Hause kam. Seine Mutter umarmte ihn. Lange betrachtete er dieses Bild. Das Lächeln der Mutter und Olles rote Wangen. Langsam klappte er das Buch zu und legte es beiseite. Draußen hatte es zu dämmern begonnen. Er rollte sich auf der dünnen Matratze des Feldbetts zusammen und zog die Decke über seinen mageren Körper.
     
    Der Platz wurde Opferhain genannt und lag hoch oben auf der Insel, genau zwischen der Festung und dem Lotsenausguck. Der Opferstein war ein fast quadratischer grauer Stein, bedeckt von blassgrünen Flechten. Einen guten Meter breit und fast ebenso hoch. Er befand sich direkt neben dem Weg, der auf der südlichen Seite zum Wasser hinunterführte. Abgesehen von der eigentümlichen Kerbe, die wie ein flacher, V-förmiger Graben über die Oberseite verlief, war der Stein eigentlich recht unansehnlich.
    Kniend lehnte die Frau an dem Stein. Seine gesamte Oberseite war voller Blut, und über die Kerbe war das Blut an beidenSeiten den Stein hinunter und auf die Erde geflossen. Die blassgrünen Flechten bildeten kleine Inseln in all dem Rot.
    »Ausgerechnet so zu sterben …« Karin brachte den Satz nicht zu
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