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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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ihren Augen >Sie lassen mich nicht weg.<
    Ich sah mich rasch um und sagte leise:
    >Du könntest Tibet verlassen. Auch ohne Paß.< Die Sicherung der Grenzen wurde nicht immer genau eingehalten, und vielen Tibetern gelang es, über die Berge nach Nepal oder Indien zu entkommen. Ich fügte hinzu:
    >Ich werde dir Geld geben.<
    Sie erwiderte ausdruckslos meinen Blick.
    >Es tut mir leid, es geht nicht. Es liegt an mir.< Sie betonte, es sei keine Frage des Geldes, sondern der physischen Belastung. Den Strapazen der Reise sei sie nicht gewachsen. Und wer von den Grenzposten verhaftet wurde, verschwand für ein paar Jahre hinter Gittern. Was würde dann aus dem Kind?
    Ihre Erklärung stimmte mich nachdenklich. Sie hatte einen Umstand klar erkannt, dem ich zu wenig Beachtung geschenkt hatte.
    Mir fiel auf, daß sie verstohlen meine verkrüppelte Hand musterte.
    Offenbar lag ihr eine Frage auf den Lippen, die sie nicht zu stellen wagte. Ich legte die Hand auf den Tisch. Ungern.
    >Abgefroren. Auf der Flucht. Sie ist nichts mehr wert, aber es gibt noch einige Dinge, die ich tun kann.<
    >Dann wissen Sie ja selbst, wie schwierig es ist.< Ich gab es zu.
    >Man muß bei guter Gesundheit sein.< Sie rauchte völlig mechanisch, mit diesem eigentümlich starren Ausdruck im Gesicht.
    >Ich war eine Zeitlang krank. Lungenentzündunge >Wie fühlst du dich jetzt?<
    >Ganz gut. Aber ich könnte nicht reisen. Verstehen Sie?< Sie glaubte nicht mehr an die Welt, in der sie lebte. Durch mich vernahm sie das Echo einer anderen Welt, fern und phantastisch wie ein Märchen. Eine Welt, die jenseits ihrer Reichweite lag. Und in ihrer Weisheit verlangte sie nicht nach ihr.
    Ein neuer Hustenanfall schüttelte sie. Als der Anfall vorüber war, sagte sie, daß sie jetzt gehen müsse. Und daß es besser für beide sei, wenn wir uns nicht noch einmal begegneten. Ihr Gleichmut war plötzlich dahin; sie sprach in scharfem, nahezu hysterischem Ton.
    Noch während ich ihren Stimmungswechsel zu verstehen suchte, zog 19
    sie mit knappem Gruß ihren Schal über den Mund und verließ fluchtartig die Halle. Ich tastete nach der Lehne des Sessels, stütze mich unbeholfen mit meiner gesunden Hand auf. Sie war fort, ehe ich alter Mann auf die Beine kam. Wieder in meinem Zimmer, schlug ich mich an die Stirn. Mein Gedächtnis taugte nichts mehr: Ich hatte Gyalas Paket vergessen! Die halbe Nacht lag ich wach und grübelte und zählte die Stunden bis zum Morgen. Mein Zimmer war für zwei weitere Tage gebucht. Ich verbrachte die meiste Zeit auf der Suche nach Chodonla. Ich wollte ihr zumindest die Geschenke geben. Meine Bemühungen blieben vergeblich. Der Tag meiner Abreise kam. Im Hotel arbeitete eine Frau, die ihre Angehörigen während der Kulturrevolution verloren hatte. Sie putzte die Spucknäpfe und hielt die Toiletten sauber. Ich ließ ihr das Paket da.
    Mit Tränen in den Augen umarmte und segnete sie mich. Einem Menschen eine Freude zu machen, lohnt sich immer, auch wenn mein Kummer davon nur wenig Linderung erfuhr.«
    Thubten schloß den Brief mit Wünschen für gute Gesundheit und Wohlbefinden. Die Formeln hatte er im Kopf; sie klangen nobel und erbaulich, blieben aber nur Worte. Er war seine Gefühlsfracht losgeworden.
    Ich hörte, wie Roman sich im Nebenzimmer regte.
    »Tara?«
    Ich faltete den Brief zusammen, schob ihn in den Umschlag. Dann schloß ich das Kästchen, trug es ins Schlafzimmer und legte es an seinen Platz. Roman stützte sich verschlafen auf den Ellbogen auf.
    »Wo warst du?«
    »Draußen. Ein Blumentopf ist umgefallen.«
    »Warum bist du nicht im Bett?«
    »Ich habe eine Tasse Milch getrunken.«
    Ich schlüpfte unter die Decke, suchte seine Wärme, legte beide Arme um ihn. Er schob mich weg.
    »Du bist ja ganz kalt!«
    Er drehte sich auf die andere Seite; bald ging sein Atem wieder gleichmäßig. Verwundert stellte ich fest, daß Schlafen Distanz schafft. Aber vielleicht ist das alles nicht wichtig, dachte ich, während sich mein Körper mit langsamem Pulsschlag beruhigte. Der Regen hatte nachgelassen. Gelöst lag ich da, zwischen Traum und Wachen. Acht Jahre, dachte ich. Und kein Lebenszeichen von Chodonla. Auch Karma hatte nie mehr etwas von ihr gehört. Und nun, ganz plötzlich, sprach Chodonla zu mir, aus dem Dunkel, aus 20
    der Ferne, zärtlich und eindringlich. Ich bin von Natur aus ein logisch denkender Mensch, aber Logik kann verschiedene Aspekte haben. Wenn wir unsere Wahrnehmung nicht absichtlich verschließen, so erscheinen uns gewisse
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