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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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ihr Gesicht. Nein. Weil sie im Gefängnis gewesen war, konnte sie keinen Paß mehr bekommen. Es sei denn, illegal natürlich. Aber sie dachte an das Kind und wollte kein Risiko eingehen.
    >Wir dürfen uns nicht darüber entrüsten und sollten es vom chinesischen Standpunkt aus sehen. Sie können es nicht darauf ankommen lassen.<
    Vieles, was mir vorher rätselhaft vorgekommen war, fand nun eine Erklärung. Reaktionäre, mögliche Spione und Verräter durften das Land nicht verlassen. Mein Herz wurde schwer.
    >Und jetzt?< fragte ich. >Was wird aus dir?< Sie erwiderte kalt:
    >Versucht nicht, irgendetwas für mich zu tun. Ich komme schon zurecht.<
    Ihre Augen waren hart und fern; sie schob mich von sich fort und lehnte jede Verbindung mit mir ab. Ich sagte, daß ihre Eltern seit zwanzig Jahren ohne Nachricht von ihr waren und sich große Sorgen machten. Da veränderte sich ihr Ausdruck. Sie biß sich auf die Lippen.
    >Einmal, im Heim, fand eine Erzieherin mich weinend. Sie sagte, daß meine Eltern der reaktionären Oberschicht angehörten, die das tibetische Volk ausbeuteten. Sie hätten mich zurückgelassen, weil sie schneller entkommen wollten. Ich war von zarter Gesundheit und hätte sie auf der Flucht bloß aufgehalten.< Ich wußte zuerst nicht, was ich sagen sollte.
    >Und das hast du geglaubt?<
    Ihre Wimpern zuckten.
    >Ich dachte, sie würde mich schlagen, weil ich weinte. Doch sie nahm mich lachend in die Arme, gab mir ein Bonbon und sagte, daß ich es noch erleben würde, eine gute Kommunistin zu sein. Es war das letzte Mal, daß ich geweint habe.< Wir starrten einander an im trüben Licht. Ich verstand sie jetzt besser. Sie hatte es kaum mehr gewagt, Zweifel zu empfinden oder Einzelheiten zu klären. Auch später nicht. Und doch war sie auf unglaubliche Weise unschuldig. Das verzweifelte Kind in ihr hatte früh verstanden, daß die Wahrheit nutzlos und gefährlich ist. Für sie mußte es die Zeit einer irrsinnigen Angst vor Gespenstern und Abscheulichkeiten gewesen sein. Aber sie war klug und tat, was in 17
    solchen Situationen das Beste ist: Sie tat gar nichts. Auf diese oder eine ähnliche Art war sie stark geworden. Und die Triebfeder in ihr war, wie ich jetzt erstaunt feststellte, nicht Hilflosigkeit, sondern Zorn. Sie brach als erste das lastende Schweigen. >Meine Eltern…
    wie geht es ihnen? Sind sie gesund?< Vater und Mutter sind wohlauf, sagte ich. Als Flüchtlinge mußten sie Schweres durchmachen, aber die Ausübung ihrer Religion gab ihnen die Kraft, ihr Schicksal zu ertragen. Ihr ältester Sohn Tenzin lebte als Inkarnation in einem Kloster. Die Zweitälteste, Lhamo, war mit einem Schweizer verheiratet. Tara, die Jüngste, wollte Ärztin werden.
    Unvermittelt lehnte sie sich vor. Für einen Augenblick zeigte ihr Gesicht einen Ausdruck, der sich schlecht mit ihren Zügen und ihrer anfänglichen Kühle vertrug: eine Art kindliche Neugierde. Verriet sich darin eine tiefere Regung ihres Wesens? Oder war es bloß eine Illusion, ein Nebeneffekt?
    >Wir sind Zwillinge, wie Sie wissen. Gleicht sie mir noch?< Ich ahnte, welche Antwort sie erwartete, und erwiderte ernst: >Wie aus dem Gesicht geschnitten.< Das stimmte nun freilich nicht. Chodonla sah zehn Jahre älter aus. Aber eine dunkle Regung trieb mich dazu, die Bequemlichkeit der Lüge vorzuziehen, die Chodonla selbst mir anbot. Die Zurückhaltung war von ihr abgefallen. In ihren Augen leuchtete kindlicher Glaube. >Ist das wirklich wahr?<
    >Sie denkt viel an dich<, sagte ich. >Du fehlst ihr.< Plötzlich hielt sie im Lächeln inne, erschauderte. Mit einer Bewegung, die sie sicherlich gar nicht wahrnahm, so rasch und instinktiv war sie gewesen, zündete sie sich eine neue Zigarette an und sagte, scheinbar ungerührt:
    >Wir haben ein unterschiedliches Schicksal erlebt.< Wieder saß sie mit abgewandtem Gesicht, in eine Art Abwesenheit versunken. Ihre Augen blickten so illusionslos, daß es die Augen einer alten Frau hätten sein können.
    >Schmerzen erfahren mit der Zeit Mäßigung<, sagte ich. >Aber es ist nicht gut, wenn du die Dinge läßt, wie sie sind. Die Familie ahnt, daß dir Böses geschehen ist.<
    Ihre Ruhe war wie der Schatten ihrer wirklichen Gedanken. Ich entdeckte darin weniger Schmerz als eine gewisse krampfhafte Unnachgiebigkeit.
    >Daran ist nichts zu ändern.<
    Ich ereiferte mich ein wenig, obwohl sich das für mein Alter nicht 18
    ziemte.
    >Chodonla, sei vernünftig. Ich bin da, um dir zu helfen.< Jetzt sah sie auf, und es war ein Flackern in
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