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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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Verwandte im Ausland hatte; ihre gut bezahlte Stelle in Lhasa garantierte ihre Rückkehr. Der Brief blieb unbeantwortet. In den folgenden Monaten versuchte Thubten vergeblich, mit ihr Verbindung aufzunehmen. Die Post kam nicht an oder wurde beschlagnahmt. Thubten vermutete, daß Chodonla unter Beobachtung stand, und entschloß sich, etwas in dieser Angelegenheit zu tun. Er schlug seiner Schwester vor, er werde Chodonla in Lhasa aufsuchen. Der alte Herr war von schlechter Gesundheit, aber er wollte die Heimat wiedersehen, und mit dem Reisen würde es bald vorbei sein. Amla schickte ihm Geld und Geschenke für Chodonla: Seife, Zahnpasta, Hautcreme. Thubten schickte ein Telegramm an Chodonla und kündigte sein Kommen an.
    Nach zwei Wochen war er wieder in Kathmandu, und sechs Monate später lebte er nicht mehr.
    Herzversagen. Vielleicht war alles zu viel für ihn gewesen. Aber Karma teilte uns mit, der Vater hätte längst angefangen, sich den Tod zu wünschen. Kurz nach seiner Rückkehr aus Lhasa war die Mutter gestorben. Thubten vermißte seine Frau so sehr, daß er gemütskrank wurde. Karma beklagte bitter den Verlust ihrer Eltern; 13
    immerhin konnte sie aber jetzt tun, was sie wollte. Den Laden würde sie aufgeben. Ein tibetischer Arzt, der jahrelang in chinesischer Haft gewesen war, hatte in Kathmandu eine Medizinschule gegründet und eingewilligt, sie zu unterrichten. Das alles kam mir in den Sinn, als ich um drei Uhr morgens am Küchentisch saß und den vergilbten Brief aus dem Umschlag zog.
    Als Schülerin war ich samstags zum tibetischen Unterricht gegangen, hatte dort gesessen, während meine Mitschüler frei hatten.
    Mir war schon klar, daß der Unterricht der Erhaltung und Weiterentwicklung unserer kulturellen Werte diente. Aber die Lehrmethode war so alt wie die Knochen eines Brontosauriers.
    Jahrelang schrieben wir immer das gleiche ab. Wir schrieben und lasen – fertig. Das fehlende Verständnis erzeugte Verwirrung oder –
    was mich betraf – Gleichgültigkeit. Daß ich mich dabei in einem gewissen Konflikt, im Widerspruch mit mir selbst befand, will ich nicht leugnen. Aber ich langweilte mich. Und wenn ich mich langweilte, wurde ich bockig.
    Der Brief trug das Datum vom 11. Juni 1992. Onkel Thubten hatte die klare Schriftführung seiner Generation. Im feudalen Tibet galt eine deutliche Handschrift als Voraussetzung für die Regierungsarbeit. Für neuzeitige Begriffe verwendete er englische Wörter. Seine Aufzeichnungen waren eine merkwürdige Mischung aus Brief und Tagebuch. Tagebuchähnlich wurde sein Bericht dadurch, daß Thubten seine Begegnung mit Chodonla sehr ausführlich schilderte; hier zeigte sich deutlich das Mitgefühl, das ihm nur in Momenten größerer Betroffenheit entschlüpfte. Ein paar Zeilen weiter kamen wieder die Phrasen. Thubten war ein formeller Mensch; sein Schreiben war privat, ma non troppo. Er begann mit Fragen nach unserem Befinden, Betrachtungen über das Wetter und noblen Binsenweisheiten, bis aus dem Monolog eine Schilderung wurde.
    »Es war eine traurige Reise. Überall begegnete ich nur Ruinen und Zerstörungen. Verwandte und Freunde lebten nicht mehr oder hatten Tibet verlassen. Das Haus unserer Familie war zugemauert worden.
    Ich sah nur wenig Vertrautes oder Erfreuliches. Vielleicht liegt es an mir. Es mag sein, daß ich zu wenig Nachsicht aufbringe. Ich fühle mich zu alt für Selbstkritik. Die Chinesen sagen von sich, sie lehren die Tibeter, frei zu sein, keinen Hunger zu leiden, kein Unrecht zu dulden. Vielleicht sind ihre Herzen ehrlich. Da sie aber mit brutaler Gewalt auf rasche Erfolge aus sind, machen sie ihre guten Absichten 14
    zunichte. Sie sind wie Ärzte, die Kranken ein Gift geben und schwören, es werde ihnen gut tun. Sie hassen alle Bräuche, ob sie nun überholt sind oder nicht. Sie bringen die bizarrsten und ungereimtesten Ideen in Umlauf und würden alle Ehre und Ehrfurcht auf Erden ausrotten, um ihre Anschauung schneller zu verbreiten. So herrscht zwischen uns großes Mißtrauen. Wir werden noch lange nicht in der Lage sein, gemeinsam etwas Wertvolles aufzubauen.«
    Das Reisebüro hatte Thubten in einem neuen Hotel untergebracht.
    Die Fahnen der Volksrepublik China wehten im Wind. Auf der Suche nach Chodonla war Thubten zunächst auf Argwohn gestoßen.
    Überall waren Spitzel, die Leute hatten Angst. Dann, eines Abends, als Thubten bereits im Bett lag, ein Anruf der Rezeption: eine Dame wünsche ihn zu sprechen. Thubten zog sich eilig an und fuhr
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