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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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kommen. Bilder und Namen waren mit räumlich und zeitlich schwebenden Erinnerungen verbunden. Bisher hatten sie mich nie aus dem Konzept gebracht. Dies hier war etwas anderes.
    Wir sollten nicht heraufbeschwören, was wir nicht wahrhaben mögen. Aber unser Leben reicht weit zurück, und manchmal stößt man unfreiwillig auf Hinweise. Träume sind weniger persönlich, als man glaubt; sie sind eine mächtige Überlieferung, in vielen Jahrhunderten geformt. Wir sind die Erben dieser Erfahrung, sie hat uns wach und feinfühlig gemacht. Unser Unterbewußtsein arbeitet.
    Verschwommene Erinnerungen erwecken Sehnsüchte, die oft geradezu absurd sind. Daß ich von meiner Schwester träumte, hatte 11
    eine Bedeutung.
    Als wir 1975 aus Lhasa flohen, ging Chodonla verloren. Jahrelang erfuhren wir nichts über sie. Amla sagte mir später, wenn sie verrückt werden könnte, wäre sie es in dieser Zeit geworden. Endlich hörten wir, daß sich Chodonla in China in einem Kinderheim befand.
    Die Nachricht war zuverlässig. Es gehörte zu Chinas Bildungspolitik, tibetische Kinder im sogenannten »Mutterland«
    aufzuziehen und kommunistisch zu schulen. Man appellierte an ihre Selbstlosigkeit, an die Notwendigkeit des Opfers, an Parteitreue und Moral. Schlagworte statt Märchen prägten ihre Kindheit; sie wuchsen auf in einer Welt, in der jedes Wort etwas völlig anderes bedeutete als bei uns. Welches Leben führte Chodonla dort? »Sie ist wohlauf, alles andere ist nicht so schlimm. Wir müssen an die Zukunft glauben und hoffen, daß sich alles zum Guten wendet«, sagte Amla. Zuversicht galt als eine Sache der Höflichkeit; wir praktizierten sie auch in tiefster Verzweiflung. Ich war, solange ich denken kann, von fröhlichen Menschen umgeben.
    Dem Debakel der »Viererbande« folgten ein paar Jahre relativer Ruhe. 1988 spitzte sich die Lage zu. Demonstrationen erzeugten Vergeltungsmaßnahmen: der übliche Teufelskreis. Eine Regierung, die ihre Kinder unter Panzern zerdrückt, zeigt wenig Milde in einem besetzten Land. In Tibet herrschte das Kriegsrecht und in den Gefängnissen Platzmangel. Zu Chinas himmlischer Unberechenbarkeit gehörte das Wechselspiel von brutaler Gewalt und leutseliger Diplomatie, wie es den Gnomen in Peking gerade paßte. Ein Jahr später wurde das Blut von den Fliesen geschrubbt, die Tempel und Klöster schlampig vergoldet, und Reisegruppen zum Kommen aufgefordert. Die Volksarmee grapschte gierig nach den Dollars der Touristen: Sightseeing is money!
    In dieser Zeit waren wir ohne Nachricht von Chodonla. Dann erfuhren wir, daß sie wieder in Lhasa war, wo sie die chinesische Sprache unterrichtete. Die Parteierziehung läßt kaum eine Wahl: Ein Kind kann sich entweder anpassen, oder es wird entsetzlich leiden, also paßt es sich in den meisten Fällen an. Mein Vater seufzte betrübt, murmelte etwas von karmischer Bestimmung. Amla verlor nicht ihre unbefangene Nachsicht. Es sei unwichtig, erklärte sie, wenn Menschen nach Bekenntnissen handeln, die sie im Grunde ihres Herzens nicht teilen. Der Kampf um das nackte Leben verlangt Härte, auch wenn es schmerzt. Das ist ja gut und richtig so, betonte Amla, und machte ein Gesicht, als ob sie keine Sekunde daran 12
    zweifelte.
    Nach der Repression schlug das Pendel in die andere Richtung.
    Flüchtlinge durften wieder ihre Verwandten besuchen und auch in die Heimat zurückkehren, wenn sie wollten. Tibeter konnten ins Ausland reisen. Amla – die den Vornamen Gyala trug – hatte einen Halbbruder in Nepal. Thubten war über siebzig. Seine beiden Söhne waren Mönche im Kloster Ganden gewesen und von den Rotgardisten ermordet worden. Thubten war mit seiner Frau Tseyang und seiner jüngsten Tochter Karma geflohen. In Eis und Schnee war ihm die linke Hand erfroren. Sie hing eingeschrumpft und verdreht herab, aber Thubten wollte sie nicht amputieren lassen – aus Eitelkeit, wie Amla vermutete. Tseyang, die an Blutarmut litt, mußte viel liegen, so daß der finanzielle Unterhalt der Familie auf der sechsundzwanzigjährigen Karma lastete. Sie hatte im Bazar von Kathmandu einen Laden gemietet, wo sie Modeschmuck und billiges Kunsthandwerk verkaufte. Ihren Wunschtraum, die tibetische Heilkunst zu erlernen, hatte sie aufgegeben. Sie mußte für die Eltern sorgen.
    Obwohl die Familie sehr bescheiden lebte, schrieb Thubten auf Amlas Bitte seiner Nichte einen Brief, in dem er sie zu sich einlud.
    Ihre Chancen, einen Paß zu bekommen, standen günstig. Chodonla konnte beweisen, daß sie
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