Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
keinen Schritt von ihm, sondern senkte den Kopf und stieß ihn sanft mit dem Maul an die Schulter. Der Schimmel wirkte unendlich erschöpft. Sein schweißnasses Fell dampfte, die schlanken Beine zitterten. Ich schüttelte Kunsang wach; sie stöhnte, blickte verwirrt umher. Ich half ihr aus dem Sattel und flüsterte: »Warte hier! « Mit zitternden Beinen taumelte ich den Abhang hinunter, kniete neben Atan auf die Steine und beugte mich über ihn. Er hielt 462
    die Augen geschlossen. Sein dunkles, blutverklebtes Gesicht war merkwürdig eingefallen. Ich schüttelte ihn an der Schulter.
    »Atan, wach auf! Wir sind gleich da. Komm, ich helfe dir.« Er regte sich, zog die Brauen zusammen, legte die Finger flach auf die bebenden Lider. Dann öffnete er die Augen, warf einen Blick umher.
    Er deutete nach oben, zu den Ruinen, stemmte sich mit einer Hand auf den Boden und versuchte, sich aufzurichten. Ich hielt ihn fest, so gut ich konnte. Er stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich, zog das Bein hinter sich her. Sein Atem ging schwer und stoßweise.
    Er glühte vor Fieber, und das Glühen übertrug sich auf mich.
    Kunsang starrte uns an. Ich sagte:
    »Kannst du dich um die Pferde kümmern?«
    Sie nickte, näherte sich furchtlos den Tieren und führte sie am Zügel. Keuchend stapfte ich durch den Sand, der auf den Steinen ein seltsames Wellenmuster formte. Ich konnte Atans Gewicht kaum halten, bei jedem Schritt gaben die Knie unter mir nach. Endlich erreichte ich das Ruinenfeld, kletterte unbeholfen über die Schuttmassen. Hinter einem verfallenen Torbogen entdeckte ich einen Mauervorsprung, der eine Art Höhle bildete. Dort ließ ich Atan auf den Boden gleiten. Inzwischen kam Kunsang mit den Pferden.
    Ich schnallte rasch unser Gepäck ab, rollte einen Schlafsack auf und schob ihn unter Atan, daß er bequem liegen konnte. Ich griff mir an die Stirn. Was nun? Ach so! Feuer entfachen, Wasser kochen. Ob es hier wohl Wasser gab? Ja, wahrscheinlich, dachte ich, zitternd vor Erschöpfung. Er kennt jeden Rastplatz. Aber zuerst mußte ich die Wunden untersuchen. Ich holte meinen kleinen Erste-Hilfe-Kasten und kniete neben Atan nieder. Er war halbwegs bei Bewußtsein. Ich löste seinen Gürtel, schlug das Wolfsfell auseinander. Seine Jeans waren braun verfärbt, steif und klebrig vor Blut. Ich nahm eine Schere, schnitt die Hose auf, entfernte behutsam die in der Wunde klebenden Stoffetzen. Die Kugel hatte oberhalb des Knies den Knochen zerschmettert. Ich konnte unter dem Blut die Splitter sehen.
    Scheiße, dachte ich.
    »Schlimm?« murmelte Atan.
    Ich betastete das Bein, drückte langsam. Atan zuckte leicht zusammen.
    »Ich muß das operieren«, sagte ich.
    Er reagierte nicht. Ich blickte zu Kunsang empor, die mit entsetztem Gesicht im Sonnenlicht stand.
    »Sieh zu, ob du Holz findest. Kleine Zweige und Wurzeln. Wir 463
    müssen Feuer machen.«
    Sie nickte und stürzte davon. Atans blutverkrustete Lippen bewegten sich.
    »Unter dem Turm… eine Quelle.«
    »Ein Glück, daß du dich auskennst!« brummte ich.
    Ich fühlte seinen Puls. Er ging langsam, aber kräftig. Gut. Ich schob behutsam sein Haar zurück; die Kopfwunde an der linken Stirnseite war geschwollen und blutverklebt, die Haut klaffte auseinander und mußte genäht werden. Ich sagte: »Es hätte schlimmer sein können.«
    Er öffnete die Augen um eine Wimpernbreite.
    »Die Pferde«, flüsterte er.
    Natürlich, dachte ich, die Pferde zuerst. Ich drückte seinen Arm und erhob mich. Kunsang kam atemlos mit einem Arm voll Holz zurück. Ich sagte, sie sollte bei Atan warten. Inzwischen stapfte ich zwischen den Ruinen umher und fand nach einigen Minuten die Quelle, die unterhalb einer Felsplatte aus dem Boden sickerte. Ich schüttelte den Rest des abgestandenen Wassers aus der Feldflasche und füllte sie neu. Dann legte ich drei Steine zusammen, wie ich es bei Atan gelernt hatte, zündete das Feuer an und setzte den Kessel auf. Während das Wasser kochte, führte ich die Pferde zu der Quelle, pflockte sie dort an. Ich nahm beiden Tieren Sattel und Satteldecke ab, ließ sie trinken, solange sie mochten. Dann hing ich ihnen den Futtersack um. Als ich sah, daß die Pferde zu fressen begannen, nickte ich erleichtert. Man konnte sehen, daß sie sich besser fühlen.
    Ich kehrte zu der Feuerstelle zurück. Das Wasser kochte. Ich ließ das Wasser kalt werden; dann füllte ich einen Becher und gab Atan zu trinken. Seine Haut war von Schüttelfrost überzogen. Er mußte beinahe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher