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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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Bogen machte. Die Schreie wurden schwächer, die Lichter blieben in der Ferne zurück. Ein schwacher Schimmer zitterte über den Felsen, bevor auch dieser erlosch und wir nur noch die Sterne sahen.
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57. Kapitel

    »A tan?« murmelte ich. »Wie fühlst du dich?«
    Er starrte vor sich hin, dann bewegten sich seine Lippen.
    »Ganz gut. Wo sind wir?«
    »Wir haben es fast geschafft«, sagte ich.
    Wir hockten bis zu den Knöcheln im eiskalten Wasser, das Boot wurde immer schwerer zu lenken. Atan blickte auf seine Pistole, schob die Sicherung vor und steckte sie weg. Seine Bewegungen waren schwerfällig.
    »Wo sind die Pferde?«
    Ein Wunder, daß er überhaupt noch denken kann, dachte ich. Ich blickte umher und erkannte das kleine Gehölz, wo wir die Pferde gelassen hatten. Die Besorgnis um Atan beklemmte mich, wuchs zur Hysterie. Irgendwie mußte ich meine Nerven in den Griff bekommen. Stell dich nicht so an, Tara.
    »Wir sind gleich da«, sagte ich.
    Im Boot stieg das Wasser. Konchok beschrieb mit dem Ruder einen engen Kreis, lenkte die »Ghawa« den abschüssigen Uferstreifen unterhalb der Krüppelstauden entgegen. Er sprang an Land, befestigte das Boot mit ein paar geübten Griffen. Atan richtete sich ungeschickt auf. Ich half ihm aus dem Boot; er watete mit Mühe ans Ufer, wobei er das linke Bein nachzog.
    »Das Boot«, murmelte er. »Weg damit! «
    Konchok nickte; ein nervöses Zucken ging über sein Gesicht.
    »Versenken… sofort! Sonst finden sie es…«
    Atans Stimme klang trotz der Schwäche eindringlich scharf. Er griff in seine Brusttasche, brachte eine alte Börse zum Vorschein.
    Mit tastenden Fingern entnahm er ihr ein Bündel Geldscheine und hielt sie Konchok hin.
    »… für ein neues Boot! «
    Auf Konchoks dunkelbraunem Gesicht malten sich gleichzeitig Dankbarkeit, Schrecken und Besorgnis. Rauh stieß er hervor: »Dank, Herr. Ich werde für dich beten.«
    Atan wandte sich wortlos ab, stapfte mit schweren Schritten auf die Pferde zu. Ich lief hinter ihm her.
    »Du kannst nicht reiten. Nicht in diesem Zustand. Ich muß dich zuerst behandeln.«
    Er blieb ruckartig stehen, wandte sich mir zu. Dann faßte er mich 459
    mit einem kräftigen Griff unter das Kinn. Ich starrte ihn an.
    »Tara, es geht um das Kind. Du hörst besser auf, dir Sorgen zu machen, ja? Wir müssen fort. Jede Minute zählt.«
    Seine Augen glänzten wie im Fieber. Ich nickte stumm, mit zugeschnürter Kehle. Er setzte sich wieder in Bewegung und zuckte zusammen, als sein verletztes Bein den Boden berührte. Er stieß den Pfiff aus, mit dem er die Pferde rief, und wir hörten ihr kräftiges Rascheln im Unterholz. Als Atan sie losband, rief Konchok atemlos:
    »Warte, Herr, laß dir helfen.«
    »Weg da… verdammt! « knirschte Atan. »Ich kann es schaffen.«
    Er setzte sein unverletztes Bein in den Steigbügel, hob sich langsam in den Sattel. Inzwischen half ich Kunsang. Ihre Hände waren klamm und steif, ihre Schuhe durchnäßt. Sie klapperte mit den Zähnen. Ich stieg hinter ihr in den Sattel. Atan wandte sein Reittier den Hügeln zu, und gehorsam setzte mein Pferd die Hufe in seine Spuren.
    Unendlich langsam verging die Zeit. Atan saß völlig ruhig im Sattel, sein Kopf war nach vorn gesunken, als ob er nachdachte. Ich hielt verzweifelt die Augen auf ihn gerichtet und versuchte zu überlegen. Die Kugeln hatten kein lebenswichtiges Organ verletzt, keines der großen Blutgefäße. Er wäre sonst an Ort und Stelle gestorben. Je länger er durchhielt, desto besser waren die Aussichten.
    Aber die Schmerzen mußten entsetzlich sein. Verdammter Kerl, dachte ich. Ich hatte soviel Bleigeruch eingeatmet, daß ich einen metallischen Geschmack im Mund verspürte. Kunsangs leise Stimme riß mich plötzlich aus meiner Erstarrung.
    »Onkel Atan… muß er jetzt sterben?«
    Die Worte trafen mich wie ein Messerstich. Im Gegensatz zu dem Aufruhr in mir hörte sich meine Stimme merkwürdig ruhig an.
    »Nein, wie kommst du darauf? Ich bin Ärztin, das weißt du doch.
    Laß mich nur machen.«
    »Ich wäre nämlich sehr traurig«, murmelte Kunsang. »Er hat gesagt, er würde mich reiten lehren.«
    Sie lehnte den Kopf an meine Schulter. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ich spürte nach einer Weile, daß sie eingeschlafen war. Die Hügel waren pechschwarz, die Mondsichel hing tief über den Bergen. In weiter Ferne lag Shigatse, die Lichter blinkten matt durch eine Mauer aus Finsternis. Atan hielt plötzlich an. Er schien sich nicht um einen Zentimeter
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