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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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klatschten auf dem Boden. Sie lief zu Sun Li, umschlang ihn mit beiden Armen, stellte sich schützend zwischen Atan und ihn.
    »Tu ihm nicht weh, Onkel!«
    Atan verzog die Lippen.
    »Ich bin nur vorsichtig, Kunsang. Komm, zieh dich an. Wir 452
    gehen.«
    Ihr zartes Gesicht verhärtete sich; sie preßte die Lider zusammen, so daß ihre Augen ganz schmal wurden.
    »Ich will aber nach China fahren!«
    Ihre Augen sahen Atan gerade ins Gesicht. Sie trugen einen Ausdruck von Eigensinn. Atans Ausdruck änderte sich nicht. Doch ich nahm seine gespannte Aufmerksamkeit am beschleunigten Rhythmus seines Atems wahr. Die Augen des Kindes blieben unnachgiebig. Schlagartig hatte die Stimmung gewechselt. Sun Li entspannte sich mit einem tiefen Atemzug, strich mit der Hand durch die Haare des Kindes. Er sprach jetzt geduldig und ernst, ohne ein Zeichen von Verwirrung.
    »Kunsang bleibt bei mir. Sie ist ein begabtes und intelligentes Kind. In Tibet hätte sie keine Chance.«
    Atan nickte kalt.
    »Um sie wäre es wirklich schade.«
    Sun Li furchte die Stirn.
    »Darf ich fragen, wer Sie sind? Doch nicht ihr Vater?«
    Atans Augen begann so heiß zu leuchten, daß es mir den Atem verschlug.
    »Nein«, sagte er.
    Sun Lis Stimme wurde um eine Spur schärfer.
    »Chodonla stand unter Bewachung. Man hat mir ihre Akten gezeigt.«
    »Sie war meine Frau«, sagte Atan.
    Sun Li lehnte sich leicht zurück.
    »Davon hatte ich keine Ahnung«, sagte er steif.
    Inzwischen suchte ich Kunsangs Sachen zusammen. Eine warme Hose, ihre Windjacke. Mütze, Schal, Handschuhe. Kunsang warf einen Blick zur Seite und beobachtete, was ich tat, sagte jedoch kein Wort. Ich bemühte mich, sie nicht zu beachten.
    »Als die Rotgardisten kamen«, sagte ich zu Sun Li, »mußten meine Eltern Tibet verlassen. Chodonla wurde auf der Flucht von uns getrennt.«
    Er nickte mit eisigem Gesicht. Ich fuhr fort:
    »Meine Familie lebt in der Schweiz. Ich wußte, daß Chodonla krank war und bin wegen Kunsang nach Tibet gekommen. Sie soll in Europa erzogen werden.«
    Sun Li schüttelte ruhig den Kopf.
    »Das Leben in Europa ist nichts für sie. Kunsang gehört nach 453
    China. Ihr Vater war Chinese. Das ist Ihnen doch sicher bekannt.
    Das allein zählt.«
    »Kunsang«, sagte Atan, »du wußtest, daß ich kommen würde.«
    Sie schaute zuerst auf ihn, dann auf mich. Jäh schoß ihr das Blut in die gebräunten Wangen. Ich sagte, jede Silbe betonend: »Kunsang, er hält immer sein Wort. Deine Mutter hat es nie bezweifelt.«
    »Ja«, flüsterte das Kind. »Das hat sie mir gesagt.«
    Ihre Augen waren dunkel und groß geworden und ihre Lippen ganz weiß. Sie wandte sich an Sun Li und sagte mit bebender Stimme:
    »Sie haben mich angelogen. Warum?«
    Sun Lis Gesicht war um eine Spur dunkler geworden.
    »Kunsang, es tut mir leid… «
    Wieder legte er seine große Hand auf das Haar des Mädchens.
    Diesmal wich sie heftig zurück.
    »Rühren Sie mich nicht an! Sie… Sie haben… «
    Sie schluckte, sprach nicht weiter. Tränen glänzten in ihren Augen.
    Sun Li senkte die Stirn. Sein Mund zitterte.
    »Ich habe nicht gelogen, Kunsang. Ich habe wirklich geglaubt, daß er nicht kommen würde.«
    Sie betrachtete ihn, voller Zorn und Kummer, und richtete dann ihre Augen auf Atan.
    »Doch. Er hat gelogen. Er ist mit den Polizisten befreundet. Und deswegen ist meine Mutter gestorben. Es war kein Unfall. Ich weiß es. Man hat sie ständig überwacht. Sie hatte solche Angst, daß sie wieder ins Gefängnis mußte…«
    Mit berechnender Kälte, erbarmungslos, hatte sie jedes Wort einzeln betont.
    »Ja«, sagte Atan. Mehr sagte er nicht.
    Sun Li starrte auf ihn, dann auf Kunsang. Ein Ausdruck von Schmerz zog seine Mundwinkel nach unten.
    »Kunsang…«, murmelte er, »ich habe es nicht so gemeint. Ich verspreche dir… «
    Er streckte den Arm nach ihr aus. Sie wandte sich von ihm ab, wie von einem wesenlosen Schatten, und trat einen Schritt auf mich zu.
    »Dir glaube ich, weil du wie meine Amla aussiehst! «
    »Komm, zieh dich an!« sagte ich sanft. »Wir haben nur wenig Zeit.«
    Ich schob ihr die Hose über den dünnen Pyjama. Eine Bluse. Den Pullover. Die Schuhe. Sun Li ließ mich nicht aus den Augen. Als ich Kunsang in die Jacke half, fragte er:
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    »Was sind Sie von Beruf?«
    »Ich bin Ärztin.«
    Der Schmerz, das Bewußtsein seiner Niederlage, raubten ihm die Gelassenheit, die er bisher mühsam bewahrt hatte.
    »Ihre Schwester war eine Hure«, sagte er hart.
    Ich preßte die Lippen aufeinander.
    »Man
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