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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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einer schwachen Glühlampe vor dem Tisch, auf dem er Papiere ausgebreitet hatte. Er war blaß, groß und schwerfällig, hatte kurzgeschorenes, ergrautes Haar. Der Gesichtsausdruck war erschrocken, wirkte aber sanft. Es war ein ruhiger Mann – anständig und ehrlich – das sah man auf den ersten Blick. Ich schätzte sein Alter auf etwa fünfundvierzig. Er hatte eine Zigarette in der Hand und blickte geradewegs in die Mündung der Pistole, bevor er in Atans Gesicht schaute.
    Mit einem einzigen Blick erfaßte ich die Unterkunft, stellte fest, 450
    daß sie dürftig eingerichtet war, halb als Schlafzimmer, halb als Arbeitsraum diente. Ein altmodischer Metallschreibtisch, daneben Berge von Akten. Kisten und Kartons mit verschiedenen Beschriftungen stapelten sich im Hintergrund. An jeder Wand stand ein Feldbett, und in einem dieser Betten schlief ein Kind. Ich sah nur eine kleine Hand, die aus den Decken ragte, und flutendes Haar, wie ein Fächer auf dem Kissen ausgebreitet.
    Zwei Sekunden oder mehr vergingen. Es gibt Menschen mit einer angeborenen und anerzogenen Vorsicht, die sie langsam denken und langsam handeln lassen. Sun Li gehörte offenbar zu ihnen. Er stieß den Rauch durch die Nase, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Er tat es mit großer Gelassenheit, ohne daß seine Hand dabei zitterte.
    »Was wollen Sie? Wer sind Sie?«
    Er sprach ein abgehacktes, korrektes Tibetisch, aber so gedämpft, daß ich mich unwillkürlich vorneigte, um ihn besser zu verstehen.
    Mein Gesicht erschien voll im Licht. Sun Lis Augen weiteten sich.
    Er mußte sich mühsam zusammenreißen.
    »Chodonla!« flüsterte er.
    Atans Stimme klang hart und kalt.
    »Falsch geraten«, sagte er.
    Er bewegte leicht die Waffe in Kunsangs Richtung. Ich verstand ihn, ging auf das Feldbett zu. Sun Li schob den Stuhl zurück, versuchte mir den Weg zu versperren.
    »Sind Sie verrückt?« stieß er hervor. »Lassen Sie das Kind in Ruhe! «
    Atan zielte unverwandt auf ihn.
    »Stillsitzen!«
    Sun Li preßte die Lippen zu einer geraden Linie zusammen.
    Wortlos fiel er auf den Stuhl zurück, wobei er mit den Ellbogen leicht die Papiere verschob. Atans Arm zuckte blitzschnell vor. Er ergriff das Handy einen Sekundenbruchteil schneller als Sun Li und ließ es in seiner Tasche verschwinden.
    »Sie sollten lieber vernünftig sein«, sagte er.
    Sun Li nahm sich gewaltig zusammen. Ich fühlte mich ihm gegenüber eine Erklärung schuldig.
    »Ich bin Tara, Chodonlas Schwester. Sie will, daß ich das Kind zu mir nehme.«
    Sun Li hatte sich wieder im Griff. Seine Antwort war so ruhig wie der Blick, der sie begleitete.
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    »Ich bin ihr legaler Vormund. Ich habe alle Dokumente unterschrieben. Wollen Sie die Papiere sehen?«
    »Wir glauben Ihnen aufs Wort«, sagte Atan.
    Sun Li räusperte sich.
    »Ich verstehe das nicht. Was wollen Sie mit dem Kind?«
    »Das geht Sie nichts an.«
    Ich trat an das Feldbett und setzte mich auf den Rand der Matratze.
    Kunsangs Gesicht war zur Wand gekehrt. Ich sah ihre Wangenlinie, ihren zart geschwungenen Hals. Meine Hand schloß sich leicht um ihre schmale Schulter.
    »Kunsang… wach auf! «
    Ich rüttelte sie sanft. Sie bewegte das Gesicht; ihr Haar hatte einen metallischen Schimmer. Die halbrund geschnittenen Fransen bedeckten die Stirn. Ihre Haut war samtig und ganz leicht olivenfarben, ihre Ohren wohlgeformt und klein.
    »Kunsang… « flüsterte ich.
    Die schwarzen Wimpern zuckten. Kunsang hatte leicht den Kopf gehoben; ihr verschlafener Ausdruck klärte sich. Der Blick ihrer mandelförmigen Augen wurde scharf. Wie in einem fernen, sehr fernen Spiegel entdeckte ich den Abglanz meines Gesichtes auf dem ihren; die ausgeprägten Wangenknochen, die langen Brauen, das eckige Kinn. Ihre Lippen waren weich und voll, die Mundwinkel traten ein wenig nach innen. Ja, ich erkannte sie – und gleichzeitig auch mich. Ein unendliches Vertrautheitsgefühl pulste in meinen Adern. Sie indessen starrte mich an. Zwischen ihren Brauen hatten sich zwei kleine, senkrechte Falten gebildet. Plötzlich richtete sie sich auf den Ellbogen auf.
    »Amla!«
    Ich lächelte mit zitternder Unterlippe. »Ich bin Tara, ihre Schwester. Wir waren Zwillinge. Hat sie dir nie von mir erzählt? Ich sehe ihr ähnlich, nicht wahr?«
    Sie nickte, stumm und steif, bevor ihr Blick an mir vorbei glitt und sich auf Atan richtete. Schrecken und Betroffenheit malten sich auf ihrem Gesicht. Mit einem kleinen, erstickten Aufschrei sprang sie aus dem Bett. Ihre nackten Füße
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