Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
Vom Netzwerk:
der Kappe? Simon wusste sofort, was geschehen war. Er hatte das Gift nicht in die Flasche geschüttet, sondern ins Glas. Er hatte nur gedacht , er hätte das Gift in die Flasche geschüttet. Er war noch einmal in Frau Kubeliks Wohnung gerannt und hatte das Wasser aus der Flasche in den Ausguss gekippt, das Glas aber stehen lassen; das Glas mit dem Gift. Frau Kubelik hatte sich an den Küchentisch gesetzt und das Glas und ihr Leben ausgetrunken. Wär ich mal tot und begraben. Simon strich über die Kappe. Er bereute nichts. Nicht er war es gewesen, die Kappe war es gewesen. Nicht er war verantwortlich für sein Tun, die Kappe war es. Sie wird schon wissen, was sie will, die Kappe. Ich überlasse mich ihr. Ich folge ihr. Ich hab den Wunsch der Alten erfüllt. Die Kappe hat ihn erfüllt. Zwei Tote an einem Tag. Mit feuchtem Finger tupfte Simon den letzten Gewissenskrümel auf: Es waren keine Morde, es war Notwehr im einen und Sterbehilfe im anderen Fall, ich hab, wir haben getan, was nötig war, ich hab mir nichts, wir haben uns nichts vorzuwerfen.
    Simon wandte sich der Leiche zu. Das Knistern stammte vom endlosen Weiden der Bakterienherden: Sie krochen aus den Schlupfwinkeln ihrer selbst, machten sich her über den Körper, und Simon spürte, wie die Bakterien sich auf und in und über Waltraud Kubeliks Körper fortbewegten, Simon sah die Myriaden von unsichtbaren Monstern pausbackig fressend und Frau Kubelik zersetzend förmlich vor sich, wie sie sich durch ihren ausgemergelten Körper hangelten, wie sie ihre Geißeln Nanometer um Nanometer nach vorn warfen, sie zogen sich weiter, Stückchen für Stückchen, nimmermüde, nimmersatt, nur mit dem einen Wunsch der restlosen Vernichtung. Vermehrten sich, nicht nur durch einfache Zellteilung, sondern auch durch Nebeneinanderliegen und Ineinanderschlüpfen, manche hatten regelrecht Sex, eine nach der anderen kroch aus einer nach der anderen, und kaum waren sie geschlüpft, beteiligten sie sich am Zersetzungsprozess, taten absolut nichts anderes als Vermehren und Zersetzen, Erschaffen und Vernichten, Leben und Tod, das war alles, woran sie dachten, Zeit ihres kümmerlichen Bakteriendaseins, wenn sie denn überhaupt denken konnten. Simon schleppte Frau Kubelik in ihr Bett und deckte sie zu. Sie sah anders aus als sonst. Das ist der fehlende Atem, dachte Simon. Er hob ihre Hände hoch und ließ sie los, sie fielen aufs Bett. Simon ging zur Wohnungstür und stieß sie auf. Draußen stand ein Zivilbeamter. Der fuhr herum. Als er niemanden sah, der die Tür geöffnet hatte, holte er einen Kollegen, und gemeinsam betraten sie Frau Kubliks Wohnung. Kurze Zeit später erschienen ein Arzt und zwei schwarz gekleidete Männer, die Frau Kubeliks Körper in einen Zinksarg packten. Simon dachte: Ich lass Sie nicht allein, Frau Kubelik, ich fahr mit, ich will wissen, was sie mit Ihnen machen, will dabei sein, wenn ein Körper zum letzten Mal gebettet wird, das will ich für Sie tun, Frau Kubelik, das letzte Geleit. Als die Männer den Sarg einluden, schob sich Simon auf den Rücksitz ihres Wagens; und als er sie am Zielort mit dem Ausladen des Sargs beschäftigt glaubte, stieg er aus.
    »Hast du das gesehen?«, fragte einer von ihnen.
    »Was denn?«
    »Die Tür ist auf- und zugegangen.«
    »Du spinnst.«
    »Wenn ich’s dir sage.«
    »Komm, hör auf damit.«
    »Das war ihre Seele«, sagte der Erste.
    Und der Zweite schwieg.
    Waltraud Kubeliks Körper wurde von Kopf bis Fuß gewaschen, mit keimtötender Lösung, ein regelrechter Germizid, zu riechen nur noch Formaldehyd. Man wickelte sie in Plastik ein, wohl für den Fall, dass noch Sekrete austreten könnten. Aber Frau Kubelik konnte kein Todeszeichen mehr von sich geben, Blase und Darm bereits entleert. Sie wurde trocken gerubbelt und mit einem Tuch bedeckt, das zu dünn war, um die Kälte im Kühlraum zu lindern. Ihre Haare waren aufgelöst, die Augen immer noch offen. Jetzt wusste Simon also, weshalb man von Todesstarre sprach, das kam daher, dass der Tote nicht mehr aufhören konnte zu starren. Frau Kubeliks Mund wurde von innen zugenäht, ihre Körperöffnungen mit eingeweichten Wattebällchen verstopft, die Augen endlich geschlossen und mit einer Augenklappe in die richtige Position gebracht. Man bemalte jetzt die sichtbaren Stellen ihres Körpers mit Farbe, pinselte Hände und Hals und Füße und Gesicht fleischfarben und hauchte den Wangen keuschrosa Leben ein, warf ihr ein Totenhemd über und brachte sie in die Totenhalle. Die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher