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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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Die-Leute-Beobachten, nein, ein Freudensprung, ein Sonnensprung, sie ist da, die Sonne, sie ist gekommen, bleckt ihre Zähne. Nichts wissen. Immer neu das Sehen erlernen. Immer neu das Leben ersehnen. Die Sonne in random -Funktion, auf Zufall programmiert. Doch stattdessen zappelt man im schwarzen Teer der Gewohnheit, klebt fest, sieht immer nur das, was man immer nur sieht. Das Leben lebenswert? Amen, ich sage euch, der Tod ist todeswert. Und bei jedem Schmerz probiert der Tod schon mal unsere Körper an. Die Menschen taugen nicht fürs Überleben, sondern fürs Untergehn. Fürs früher oder später Untergehn. Sind keine Rattensäuger mehr, nur ekelhafte Rattenmenschen, denkende, zitternde Kreaturen. Und ich? Nur wenn ich’s schaffe, der Feigheit die Stirn und der Kappe den Kopf zu bieten, nur dann werde ich anders sein als ihr.

27
    N achdem er den Tag unter den Rattenmenschen verbracht hatte, setzte sich Simon gegen acht Uhr in Miriams Auto. Auf die Rückbank. Das schien ein Ritual ihres Lebens zu sein: Jeden Abend, zwischen halb neun und neun, fuhr sie los. Sieben Tage das gleiche Spiel: Simon wartete im Auto. Er war das Warten gewohnt inzwischen. Er hatte nichts mehr zu tun. Sein Leben glich einer Soße, die reduziert wurde, aufs Wesentliche. Gedankenstecker gezogen: Sekunden der Denkstille. Dort, in Miriams Wagen. Sie fuhr jeden Tag dieselbe Strecke. Wie Anna und er immer denselben Weg gegangen waren, jetzt die Hackethal: immer zunächst über den Zubringer aus der Stadt, auf die Landstraße, durch zwei Dörfer, dann die Bundesstraße, geradeaus, immer den Blick nach vorn, nur einmal, an der Stelle, wo ein Schotterweg abbiegt, wanderte ihr Blick nach rechts, aus dem Seitenfenster. Ihr Nacken, ihr ärmelloses Shirt, die aus der Haut kriechenden Achselhärchen, wenn sie keine Lust gehabt hatte, sich zu rasieren, ihr Duft, weder zu süßlich noch zu dick aufgetragen, ein Gemisch aus Kokos und Vanille, ihr Profil, und wie ihre Augen sich ab und zu schlossen, und wie ihre Zunge, wenn sie einen neuen Gang einlegte, die Spitze aus den Lippen steckte, und wie sie Strähnen hinters Ohr schob. Er hörte sie schniefen, Heuschnupfen vielleicht, Miriam hatte immer Papiertaschentücher dabei, auf dem Beifahrersitz, im Fahren zupfte sie eins raus, wedelte es auf, betupfte ihre Nase oder schnupfte hinein. Ein Schweinchen baumelte vom Rückspiegel und grinste Simon ab und zu an. Auch Miriam blickte manchmal in den Fond ihres Wagens, als hätte sie etwas gehört, aber sie sah weder Simons Hände noch seinen Schoß noch sein Gesicht und drehte sich wieder nach vorn, eine gewissenhafte Fahrerin, kein einziges Mal startete sie den Motor, ohne sich vorher anzuschnallen und die Fahrbrille aus dem kleinen Fach über dem Rückspiegel hervorzuholen und aufzusetzen.
    Es wurde Zeit. Zeit zu handeln. Zeit für den letzten Schritt. Zeit für Simon, Miriam zu verlassen. Früher als geplant. Zwei Tage vor Gregors Beerdigung. Auslöser war das, was an diesem Abend geschah. Viertel nach neun. Miriam fuhr dieselbe Strecke wie immer. Und Simon war so eingelullt, dass er den Augenblick verpasste, an dem Miriam ihre Lebensfahrt sprengte. Er wollte schon seinen Kopf nach rechts wenden, auf die Schotterpiste parallel zur Bundesstraße, als Miriam das Lenkrad herumriss und genau auf diese Piste einbog. Sie bremste, die Räder knirschten, sie hielt an, das Auto wie ein Stier, der mit den Hufen scharrt, sie küsste kurz mit der Stirn das Lenkrad, schüttelte sich, etwas Entschlossenes lag jetzt in ihren Gesten, holpriges Anfahren, der erste Gang, der zweite, der dritte, und Miriam fuhr die Schotterpiste entlang. Sie ließ ihre Hand auf den Sitz neben sich gleiten, nicht, um ein Taschentuch zu nehmen, sondern um, nachdem sie den Sitz gestreichelt hatte, in einer Bewegung, die Simon von hinten nicht richtig hatte sehen können, die Gurttaste zu drücken, und der Gurt schnurrte zurück. Sie war frei jetzt, fuhr noch schneller. Die Räder kratzten Körner von der Piste und ließen Staub explodieren. Miriam verließ die Schotterpiste und bog ab, auf eine riesige Wiese. Der Bauer hatte sie erst vor kurzem gemäht, durch die offenen Fenster drang der Geruch von Pollen und Heu. Die Wiese ging nahtlos über in den Wald. Wie ein Wächter stand dort eine uralte Eiche, die ihre Krone in den Himmel schickte und Vögel barg, die jetzt ruckartig ihre Hälse reckten zum Auto, das auf sie zuraste, und die Eiche wartete darauf, dass ihre alte Rinde vom Stahl durchbohrt
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