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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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die im Flug auseinandergerissen wurde. Einige Körnchen landeten früher auf dem Deckel als der schwere Rest; ein Geräusch, das nur er hören konnte. Manchmal rieselte der Dreck in den Raum zwischen Sarg und Grabrand. Dort war alles dunkel. Die einen schleuderten Dreck auf den Toten, die anderen bewarfen ihn mit Blumen. Rosen, Lilien, Nelken. Als solle der Toten nicht allein hier unten verwelken. Nach dem Segen hörte Simon davonknirschende Schritte, während der Totengräber seiner Arbeit nachging, eine Schippe nach der anderen. Simon legte sich flach auf den Rücken, bettete den Hinterkopf auf die Stelle, wo, unterm Deckel, auch Gregors Kopf liegen musste. Von seiner Lage aus konnte er einen mickrigen Ausschnitt Welt sehen. Deshalb ein Grab, dachte er, damit der Tot e – schwacher Tros t – den Himmel sieht, wenn er hier liegt. In diesem Augenblick fühlte Simon den Splitter eines Gedankens: einfach unten bleiben. So ungemütlich ist es hier nicht. Der Dreck wird sein wie eine Decke. Dann schlafen. Für immer schlafen. Simon schloss die Augen. Und ließ sich zuschütten. Gemeinsam mit Gregor. Hätte der Totengräber ins Grab geschaut, hätte er die Augen zusammengekniffen wegen der Erde, die scheinbar so frei und schwerelos in der Luft schwebte; aber der Totengräber stand seitlich zum Grab und achtete nicht auf den Dreck, der fiel, sondern nur auf den Haufen daneben, immer auf das, was noch zu schaffen war, nie auf das, was er schon geschafft hatte. Schicht um Schicht legte sich auf Simons Körper. Der Dreck wog schwer und drückte ihn in den Sarg. Ab und an musste er den Mund und die Nase freistreichen, um Luft zu bekommen. Bald war auch das nicht mehr möglich. Der Dreck beschwerte seine Hände, bedeckte sein Gesicht. Jetzt wurde das Atmen mühsam. Und die Geräusche der fallenden Erde leiser: als läge Simon bei Gregor im Sarg. Es wurde nicht nur ruhiger draußen, es wurde auch ruhiger drinnen, in Simon. Es gab keinen Drang mehr, etwas zu tun, keinen Willen, Simon lag dort, im Grab, leer und antriebslos, gleichwohl hatte er das Gefühl: zu wechseln in einen höheren Zustand, als hätte er eine Stufe erklommen und sähe etwas, was er nie gesehen hatte, einen Zustand, wirklicher als die Wirklichkeit, ein Bergsteiger, der einen Gipfel erreicht. Denn was Simon jetzt tat, folgte keiner Absicht mehr, es war etwas, das er einfach tun musste, etwas, das über ihn kam und nicht aus ihm. Die Kappe tat es. Nicht er. Simon spürte, wie er sich durch den Dreck wühlte, sich freikämpfte, die Erde von den Knochen schüttelte, aufatmete, sich laut räusperte, ein Geräusch, das den Schädel des Totengräbers anlockte, der kurz über den Grabrand lugte, ehe er weiterschaufelte. Simon kletterte an der Kopfseite hinaus in die Welt. Seine Bewegungen hatten ihre natürliche Schnelligkeit verloren. Alles geschah in Zeitlupe. Kurz sah er dem Totengräber zu. Der arbeitete mit ernster Miene. Nicht aus Trauer, sondern weil die Arbeit so anstrengend war. Dann wandte Simon sich ab und ging los. Aber er wusste nicht, wohin, jeder Schritt eine Überraschung, es interessierte ihn auch nicht, er begleitete nur teilnahmslos und ohne Staunen die einzelnen Schritte, die seinen Simonkörper forttrugen. Er gelangte zu Gregors Villa, klingelte nicht, sondern wartete eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, stand reglos dort wie ein Block aus Eis, der nicht schmelzen konnte, weil es in ihm viel zu kalt war, wartete ohne einen Gedanken im Kopf, und endlich verließ Sandra das Haus, in schwarz gekleidet, sie ließ die Tür ins Schloss leiern, und Simon schob sich an ihr vorbei, etwas zu nah, Sandra blickte verwirrt zurück, Simon beachtete sie nicht, sondern stieg hoch in Carstens Zimmer, er wehrte sich nicht gegen das, was er tat oder gegen das, was mit ihm getan wurde, hätte sich auch gar nicht wehren können, denn er hatte längst das Kommando verloren.
    Er verriegelte Carstens Tür von innen und setzte sich auf einen Stuhl. Mitten in den Raum. Simons Arme glitten an seinem Körper hoch. Wie eine festgewachsene Dornenkrone wurde die Kappe gelüpft. Das gab ein hässliches Geräusch. Als bliebe Simons Schädeldecke an der Kappe kleben und sein Gehirn läge nun frei. Der Schmerz stand wie das Ende von allem vor ihm. Oder wie der Anfang von allem. Sein Kopf war offen, die Kappe zwischen den Fingern, Augen geschlossen, Mund geschlossen, kein Schrei, denn der Schmerz war allumfassend. Simon reinigte die Kappe, mechanisch, ließ das Blut vom
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