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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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Taschentuch trinken, entfernte Hautfetzen, letzte Haare, aber der Schmerz hörte nicht auf.
    Und wenn er zu Carsten ans Bett träte? Ihm die Kappe auf den Kopf stülpte? Carsten würde verschwimmen und verschwinden vor seinen Augen. Simon sähe nur noch ein leeres Bett mit Carstens Abdruck. Aber auch dann würde Simons Schmerz nicht aufhören. Auch nicht, wenn der unsichtbare Carsten Guhl endlich aufwachen und ihn fragen würde: Wo bin ich?
    Und Simon sagen würde: Du hast alles vergessen, Carsten. Alles, was du erlebt hast. Und alles, was du nicht erlebt hast. Du hast dein Leben im Vorhinein vergessen.
    Und Carsten: Hab ich die Mutprobe bestanden?
    Und Simon: Das hast du, Carsten, das hast du.
    Simon legte die Kappe auf den Stuhl. Er trat zu Carsten ans Bett, zögerte nicht, sondern hob Carstens Kopf an und zog das Kissen unterm Nacken hervor. Dann ließ er Carsten auf die flache Matratze gleiten. Was Simon jetzt tat, dauerte kaum zwei Minuten. Nachdem er das Kissen von Carstens Gesicht genommen und sich vergewissert hatte, dass Carsten nicht mehr lebte, schob er das Kissen zurück, bettete Carstens Kopf, überlegte, ob er ihm kurz die Wange tätscheln sollte, ließ es bleiben, gähnte, drehte sich um, nahm die Kappe vom Stuhl, stellte sich vor den Spiegel und sah sich selbst an, Simon Bloch, dieser blutige Schädel, dieser Dreck im Gesicht, Gregors Totenerde, diese Augen, die aus den Höhlen lugten wie hinterhältige Tiere, diese Wangenknochen, dieser ausgewrungene Körper, diese skelettartigen Hände, die sich an die Kappe klammerten, so, wie alles in ihm sich an die Kappe klammerte, letzte Zuflucht, nicht Gregors, nicht Carstens, nein, seine Kappe, und Simon Bloch sah eine Träne im Augenwinkel zappeln, beachtete sie nicht, sondern stemmte mit einem schweren Ruck die Kappe. Sie schwebte über seinem Kopf. Wie zwei Magnete zogen sie sich an: Simons offener Schädel und die offene Kappe. Jetzt, hier, mit dem für immer zum Schweigen gebrachten Carsten Guhl im Bett, pflanzte sich die Kappe ein letztes Mal auf Simons Kopf, flüsterte sich in ihn hinein, nahm die Form seines Schädels an, war Heilung und Befreiung zugleich, seine Wunden schnurrten zusammen, die Schmerzen verschwanden sofort, und mit den Schmerzen verschwand Simon. Er konnte sich nicht mehr sehen. Würde sich nie wieder sehen können. Und als seine Finger über den Kopf strichen, spürte er die Kappe nicht mehr, keinen Kappenrand, kein Leder, keine raue, braune Oberfläche, die Kappe war in ihn hineingewuchert, statt Kappe nur noch eigene Haut, nackte Glatze, Kopf ohne Kratzer, aber mehr noch, Simon konnte die Kappe durch seinen Geist ackern hören und merkte, wie sie sich anschickte, auch noch den letzten Rest zu vertilgen von dem, was einst Simon Bloch gewesen war.
    Sein unsichtbarer Körper trat ans Klavier, eine letzte Melodie von Bronisłau Kaper wollte gespielt werden, aber Simon konnte es nicht mehr, seine Hand stocherte in den Tasten, er stand auf, knallte den Deckel zu, verließ Carsten, ohne ihn noch mal anzuschauen, ging zum Bahnhof, fuhr ins Hackethal-Haus, schlief dort, stärkte sich, mischte sich unter die Menschen, blicknackt, wie er war. Diese Menschen!, dachte die Kappe in ihm. Sie eseln durch die Welt. Zertreten Schritt für Schritt den Teppich unter ihren Füßen. Jeder Atemzug, den sie auf den Lippen zerkauen, ist einer weniger, als ihnen noch bleiben wird. Jede Sekunde, die sie mit ihren Körpern verbringen, ist eine Kerbe, die sie in die Wand ihrer Zellen ritzen. Schmutzig sind sie, schwitzen, stinken, schleppen sich durchs Dasein, an die Körper gelötet. Rütteln an den Rippengittern. Wenn sie nur endlich aus ihren Körpern springen könnten wie aus einem Kerker. Zurück bliebe ein reiner Geist, ein freier Geist, der keinen Ballast mehr mit sich schleppt. Aber sie können es nicht, sie sind geboren ins Fell. Es ihnen über die Ohren ziehen. Ihnen helfen.
    Und Simon legt los.
    Sofort.
    Er streift als Nichts durch die Welt. Man kann ihn nicht sehen. Aber spüren, seine Gegenwart. Manchmal hören oder riechen. Er riecht nach verbranntem Fleisch. Er klingt wie ein Angstschlucken. Er hat nichts zu verlieren. Er hat nur zu vergeben. Hat den Tod zu vergeben. Kann ihn verteilen, den Tod, an die Menschen, wie ein Geschenk. Hat es schon getan. Frau Kubelik. Gregor. Carsten. Wär ich mal tot und begraben. Er eist die Menschen von den Körpern los. Sie bibbern doch. Bemühen sich, das Bibbern zu verbergen, aber sie bibbern ein Leben lang.
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