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Die Sünderin

Die Sünderin

Titel: Die Sünderin
Autoren: Petra Hammesfahr
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gerade ein Jahr alt gewesen, hatte sie ihn zu sich ins Bett genommen, an einem Sonntagmorgen. Er war noch einmal eingeschlafen in ihrem Arm. Und es war ein tiefes und warmes Gefühl gewesen, ihn zu halten.
    Und wie sie da aufrecht neben ihm stand, auf den schmalen weißen Rücken hinunterschaute, auf die kleine Faust, die den roten Fisch im Wasser schwenkte, auf den gebeugten Kopf mit den fast weißen Haaren, auf den zierlichen Nacken, da kam das Gefühl wieder. Wenn es nicht schon genug Gründe gegeben hätte, hätte sie es nur für ihn getan. Damit er frei und unbelastet aufwachsen konnte. Sie hockte sich neben ihn und küsste ihn auf die Schulter. Er roch sauber und frisch nach der Sonnenschutzmilch. Gereon hatte ihn eingecremt, während sie im Wasser gewesen war.
    Sie blieb eine halbe Stunde mit dem Kind im seichten Wasser, vergaß die beiden Paare auf der grünen Decke, vergaß alles, was den Abschied stören konnte. Dann leerte der Rasen sich allmählich, es ging auf sechs Uhr zu, und sie begriff, dass es allerhöchste Zeit wurde. Wenn sie das Kind nicht bei sich gehabt hätte, wäre sie hinausgeschwommen, ohne noch einen Gedanken an Gereon zu verschwenden. Den hilflosen kleinen Kerl allein auf dem Uferstreifen zurückzulassen, brachte sie nicht über sich. Er hätte ihr folgen können.
    Sie nahm ihn wieder auf den Arm, fühlte die jetzt kühlen Beinchen und das nasse Höschen durch den Badeanzug am Bauch und den festen, runden Arm wieder im Nacken. Den roten Fisch hielt er an der Schwanzflosse umklammert.
    Beim Näherkommen erkannte sie, dass sich auf der grünen Decke nichts verändert hatte. Die Musik lief so laut wie zuvor. Das eine Paar saß aufrecht und unterhielt sich, ohne sich zu berühren. Das andere lag wieder.
    Sie kümmerte sich nicht darum, zog dem Kind eine frische Windel und ein trockenes Unterhöschen an. Dann wollte sie gehen, wurde jedoch noch einmal aufgehalten.
    «Ich mag essen», sagte das Kind.
    Auf ein paar Minuten kam es nicht an. Sie war voll und ganz konzentriert auf die letzten Augenblicke mit ihremSohn. «Was magst du denn essen? Ein Joghurt, eine Banane, einen Keks oder einen Apfel?»
    Er hielt das Köpfchen zur Seite geneigt, als denke er ernsthaft über ihre Frage nach. «Ein Apfel», sagte er. Und sie setzte sich noch einmal in ihren Sessel, nahm einen Apfel und das kleine Schälmesser aus der Umhängetasche.
     
    Gereon hatte ihren Sessel während ihrer Abwesenheit verschoben, sodass sie nicht mehr mit dem Rücken, sondern seitlich zur Decke saß und er besser an ihr vorbeischauen konnte. Er saß mit ausgestreckten Beinen und über dem Bauch zusammengelegten Händen da, tat so, als blicke er zum Wasser, schielte in Wahrheit zu den Brüsten der weißblonden Schlampe. Unter Garantie würde er sich so eine suchen, wenn sie nicht mehr da war.
    Es hätte sie wütend machen müssen, so zu denken, das tat es nicht. Es machte nicht einmal traurig. Der Teil von ihr, der fühlen konnte, war wohl schon tot, gestorben irgendwann in den letzten sechs Monaten, ohne dass es einer bemerkt hätte. Sie dachte nur darüber nach, wie sie es sich leichter machen konnte.
    Nicht gegen das Wasser kämpfen. Dort wo die Absperrung begann, ragte eine winzige Landspitze in den See hinein, mit Buschwerk bestanden. An der Stelle wäre sie gleich aus dem Blickfeld der anderen verschwunden. Und dann zur Mitte des Sees schwimmen. Von Anfang an tauchen. Das zehrte an den Kräften.
    Aus dem Radiorecorder hämmerte ein Schlagzeugsolo. Obwohl sie es nicht beachtete, drosch es auf ihre Stirn ein. Sie hielt den Apfel fest in der Hand, fühlte das Zittern im Nacken, die Schultermuskeln spannten sich an. Es wurde hart in ihrem Rücken und kalt, als säße sie nicht in der warmen Luft, sondern läge auf einem kalten Untergrund. Und etwas wie ein besonders dicker Daumen schob sich in ihren Mund. Sowie Weihnachten, als Gereon es besonders schön machen wollte.
    Sie schluckte heftig, setzte das Schälmesser an und teilte den Apfel in vier Stücke, drei legte sie sich auf die geschlossenen Beine.
    Hinter ihr sagte die bereits vertraute Stimme von Alice: «Da steckt ja richtig Feuer drin.»
    Der sitzende Mann antwortete: «Das traut ihm heute keiner mehr zu. Es ist auch fünf Jahre her. Das waren Frankies wilde Wochen. Mehr als ein paar Wochen waren es nämlich nicht. Er wird nicht gerne daran erinnert. Aber ich finde, Ute hat Recht. Die Musik ist phantastisch, er muss sich nicht schämen dafür. Drei Freunde waren sie,
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