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Die Sünderin

Die Sünderin

Titel: Die Sünderin
Autoren: Petra Hammesfahr
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erleichtert, als sie mich zurück ins Warme bringt. Ich war noch sehr klein, achtzehn Monate alt. Es lässt sich leicht nachrechnen.
    Als Magdalena geboren wurde, wie ich im Krankenhaus in Buchholz, war ich ein Jahr alt. Wir hatten im selben Monat Geburtstag. Ich am 9. und Magdalena am 16.   Mai. Meine Schwester kam als blaues Baby auf die Welt. Sofort nach ihrer Geburt wurde sie in die große Klinik nach Eppendorf gebracht und am Herzen operiert. Dabei stellten die Ärzte fest, dass Magdalena noch andere Krankheiten hatte. Natürlich versuchten sie, ihr zu helfen, nur ließ sich nicht alles in Ordnung bringen.
    Anfangs hieß es, dass Magdalena ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen leben könne. Die Ärzte wollten nicht, dass Mutter sie mit heimnahm. Und Mutter wollte Magdalena nicht allein lassen, sie blieb ebenfalls in Eppendorf. Aber nach einem halben Jahr lebte meine Schwester immer noch, und die Ärzte konnten sie nicht ewig festhalten. Sie schickten sie heim zum Sterben.
    Ich war während dieser sechs Monate bei einer Nachbarsfamilie, den Adigars, untergebracht. Als kleines Kind glaubte ich fest, dass sie meine Familie seien. Dass mich meine richtige Mutter Grit Adigar nur nebenan abgeliefert hatte, weil sie nicht viel mit mir zu tun haben wollte. Nicht gleich, zuerst nahm sie mich ja noch einmal mit zurück. Leider nicht mehr für lange.
    An Einzelheiten aus dieser Zeit erinnere ich mich nicht. Ich habe mir oft gewünscht, dass mir wenigstens ein bisschen aus den Wochen und Monaten bei Grit und ihren Töchtern Kerstin und Melanie einfiele.
    Grit war noch sehr jung, sie muss damals Anfang zwanzig gewesen sein, hatte mit siebzehn das erste Kind bekommen und mit neunzehn das zweite. Ihr Mann war nur selten daheim. Er war etliche Jahre älter als sie, fuhr zur See und verdiente sehr gut. Grit hatte immer genug Geld und immer genug Zeit für ihre Töchter. Sie war ein lustiger und unkomplizierter Mensch, selbst fast noch ein Kind.
    Ich habe oft erlebt, wie sie sich plötzlich eine ihrer Töchter schnappte, sich mit ihr auf den Boden fallen ließ, sie kitzelte, dass sie sich unter ihren Händen wand, jauchzte und quietschte und mit dem Lachen kaum nachkam. Und ich denke heute noch, dass sie das auch mit mir einmal gemacht hat in der Zeit, in der sie mich betreute. Dass ich mit Kerstin und Melanie spielte. Dass Grit mich abends auf den Schoß nahm und mit mir schmuste, wie sie es mit ihren Kindern tat. Dass sie mich am Nachmittag mit Kuchen fütterte oder mir eine lustige Geschichte erzählte. Und dass sie zu mir sagte: «Du bist ein gutes Kind, Cora.»
    Aber die sechs Monate sind weg. Auch die paar Wochen, die ich noch bei Grit verbrachte, nachdem Mutter mit Magdalena aus der Klinik heimgekommen war, sind ausgelöscht. Nur das Gefühl hat sich eingeprägt, das Abgeschobenwerden, das Ausgestoßensein, hinausgeworfen aus dem Paradies.Weil im Paradies nur die reinen Engel sein dürfen, die Gottes Wort bis auf den letzten Buchstaben befolgen, keines seiner Gebote in Frage stellen, sich nicht gegen ihn auflehnen und die Äpfel am Baum der Erkenntnis hängen sehen können, ohne einen Bissen zu begehren.
    Ich konnte das nicht. Ich war leicht zu verführen, ein schwaches, sündiges Menschlein, das die Wünsche, die in ihm geweckt wurden, nicht kontrollieren konnte, das alles haben wollte, was ihm vor Augen geriet. Und mit so einem Menschen wollte Grit Adigar nicht unter einem Dach leben, glaubte ich.
    Deshalb musste ich zu einer Frau Mutter sagen, die ich nicht leiden mochte, und Vater zu dem Mann, der mit im Haus lebte. Aber ihn mochte ich sehr gerne. Er war auch ein Sünder. Mutter nannte ihn oft so.
    Ich trug meine Sünden innen, bei Vater waren sie außen. Ich habe sie oft gesehen, wenn ich in der Badewanne saß und er aufs Klo musste. Ich weiß nicht, wie ich drauf gekommen bin, dass dieses Ding seine Sünde war. Vielleicht, weil ich so etwas nicht hatte und Kerstin und Melanie Adigar auch nicht. Und weil ich mich für völlig normal hielt, musste bei Vater etwas zu viel sein. Er tat mir Leid deswegen. Ich hatte oft den Eindruck, er wolle seinen Makel loswerden.
    Wir schliefen in einem Zimmer. Und einmal wachte ich nachts auf, weil er so unruhig war. Ich glaube, da war ich drei Jahre alt, genau weiß ich es nicht mehr. Ich hing sehr an Vater. Er kaufte mir neue Schuhe, wenn die alten drückten. Er brachte mich abends ins Bett, blieb bei mir, bis ich eingeschlafen war, und erzählte von früher. Von ganz früher,
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