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Die Stunde des Wolfs

Die Stunde des Wolfs

Titel: Die Stunde des Wolfs
Autoren: Alan Furst
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Bromen warteten in der Kajüte. Versuchten zu lesen, versuchten zu reden, doch inzwischen konnten sie südlich von der Stadt die Gefechte hören, leise, aber unablässig wie ein fernes Donnergrollen. Ein deutscher Aufklärer flog hoch über dem Hafen, und ein paar von den Kanonieren versuchten ihr Glück, doch er war allzu hoch über dem Flakbeschuss. Dann fingen sie auf dem Kreuzer an, und die Detonationen aus den schweren Turmgeschützen hallten von den Hafengebäuden wider.
    »Auf wen schießen die?«, fragte Maria Bromen.
    »Unterstützen ihre Armee, versuchen es zumindest.«
    »Wie weit ist denn die Front?«
    »Bei der Geschützgröße? Vielleicht fünf Meilen.«
    »Nicht so weit.«
    »Nein.«
    Sie stand vom Bett auf und ging zum Bullauge, um auf das Dock hinauszusehen. »Ich glaube, wir müssen bald los.«
    »Meinst du?«
    Sie winkte ihn heran. Unweit der Gangway parkte ein Armeelaster. Die Plane war zurückgeschlagen, und ein paar Soldaten kämpften mit einem unförmigen Gegenstand, den sie ans Ende der Ladefläche schoben, während andere auf dem Pier warteten, um ihn auf den Boden zu hieven. De Haan brauchte einen Moment, bis er sah, dass sie es mit einem Flügel zu tun hatten. Zu schwer – als sich das Gewicht verlagerte, fiel das Instrument den letzten halben Meter auf den Stein des Kais. Einer der Soldaten im Laster hob eine Klavierbank auf, rief etwas und warf sie den anderen zu.
    Mit einem Seufzer ging De Haan zum Deck hinauf, wo Van Dyck und ein Teil der Besatzung sich versammelt hatten, um die Darbietung zu verfolgen. »Wo soll das Ding hin, Herr Kaptän?«, fragte Van Dyck.
    »In den Vorderdeckladeraum. Machen Sie eine Schlinge drum und schlagen Sie es in Segeltuch ein.«
    Die Soldaten hatten offenbar vor, den Flügel die Gangway raufzutragen, doch Van Dyck winkte sie weg und zeigte auf die Derrickkräne, woraufhin sie lächelten und nickten.
    De Haan kehrte in die Kajüte zurück.
    »Dann gehen wir jetzt also«, sagte sie, »nach Norden.«
    »Der russische Offizier hat gesagt, nach Tallinn, dem Marinestützpunkt.«
    »Wie weit ist das?«
    »Einen Tag, vierundzwanzig Stunden.«
    »Nun ja«, sagte sie, »du hast mich gewarnt, in Lissabon.«
    »Bereust du, dass du nicht dort geblieben bist?«
    Sie strich ihm das Haar glatt. »Nein«, sagte sie. »Es ist besser so. Besser, man tut, was man tun will, und dann passiert eben, was passieren muss.«
    »Vielleicht ist es da oben gar nicht mal so schlecht.«
    »Nein, nicht so schlecht.«
    »Sie sind jetzt im Krieg, und wir sind ihre Verbündeten.«
    Sie lächelte und berührte sein Gesicht mit den Fingern. »Du kennst sie nicht«, sagte sie. »Du möchtest glauben, dass die Welt gut ist«, sagte sie. Sie erhob sich und fing an, sich das Hemd aufzuknöpfen. »Für mich eine Dusche. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.« Sie sah aus dem Bullauge und fügte hinzu: »Und für dich – da draußen.«
    Auf dem Pier strömten Leute zusammen, vielleicht zwanzig Männer und Frauen, die zum Schiff hinaufspähten und sich um ihren Anführer scharten, einen Mann mit einem spektakulären Bart, einem Filzhut und Cape. Manche hatten Koffer dabei, andere schoben Schrankkoffer auf kleinen Rädern vor sich her.
    De Haan schnappte sich seine Mütze und sagte: »Bin gleich wieder da.«
    Als er an Deck war, kam ihm der Bärtige bereits auf der Gangway entgegen. »Guten Abend«, sagte er auf Englisch zu De Haan. »Ist das hier die Noordenstadt ?«
    »Die Noordendam.«
    »Da steht aber Santa Rosa.«
    »Es ist trotzdem die Noordendam.«
    »Ah, gut. Wir sind das Kiew.«
    »Und das heißt?«
    »Das Kiew. Das Kiewer Ballett, die Wandertruppe. Wir werden doch erwartet?«
    De Haan musste lachen. Er hob die Hände, um ihm zu sagen, dass er keine blasse Ahnung hatte, und der Bärtige entspannte sich. »Cherschenski«, sagte er und streckte ihm die Hand entgegen. »Der Impresario. Und Sie sind?«
    »De Haan, ich bin der Kapitän. War das Ihr Flügel?«
    »Wir haben keinen Flügel, und das Orchester ist auf der Burja, dem Zerstörer. Wo sollen wir hin, Herr Kapitän?«
    »Wo Sie Platz finden, Herr Cherschenski. Vielleicht am besten in der Messe, ich zeig Ihnen, wo.«
    Cherschenski drehte sich zu der Tänzergruppe um und klatschte in die Hände. »Ihr könnt kommen«, sagte er. »Sie bringen uns in der Messe unter.«
    Zwanzig Minuten später erschienen zwei Kompanien Marineinfanteristen, die singend die Gangway hochstiegen. Es folgte eine Lkw-Ladung voll Büromobiliar und ein Großer
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