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Die Stunde des Schakals (German Edition)

Die Stunde des Schakals (German Edition)

Titel: Die Stunde des Schakals (German Edition)
Autoren: Bernhard Jaumann
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eben das Grab ihrer Mutter das einzige mit Blumenschmuck! Hier irgendwo musste es sein. 5821, 5822. Sobald Clemencia den Friedhof verlassen hätte, würde sowieso einer der Arbeiter die Rosen aufsammeln und seiner Freundin, Ehefrau, vielleicht seiner Mutter mitbringen. Und die würde versuchen, sie am Straßenrand für ein paar Dollar zu verkaufen, um dafür Maismehl zu besorgen. Warum auch nicht? Clemencia wollte den kleinen Strauß nur auf dem Grab ihrer Mutter niederlegen. Das genügte schon.
    6212, 6213. An die Grabnummer konnte Clemencia sich nicht erinnern, aber in diesem südwestlichen Teil Golgathas musste es sein. Wie lange war sie schon nicht mehr hier gewesen? Links, das Grab mit der eisernen Umzäunung, war man daran nicht vorbeigekommen? Sie erinnerte sich an einen kleinen grauen Grabstein, nur der Name ihrer Mutter stand darauf, und vielleicht Geburts- und Sterbedatum, aber selbst das wusste Clemencia nicht mehr genau. 6554, 6555. Es waren viel zu viele Tote. Sollte sie bei ihrem Vater nachfragen?
    Sie bückte sich, schaufelte mit der Hand ein wenig Geröll unter einem umgestürzten Grabstein heraus. Die Erde war trocken, keine Spur von den kürzlichen Regenfällen. Clemencia versuchte den Stein anzuheben, um den Namen darauf lesen zu können, doch er war zu schwer. Der von ihrer Mutter hatte sowieso anders ausgesehen. Heller, kleiner. 6808, 6809. Nein, sie musste vorbeigegangen sein. Das Grab war mittendrin gewesen, und dort vorn lief schon die Umfassungsmauer, neu gestrichen in Rot und Gelb. Auf ihr balancierten drei Jungs. Sie schienen zwei, drei Jahre älter als Timothy zu sein. Dahinter eine Straße, flache Häuser, vielleicht ein wenig ärmlicher als in Clemencias Gegend, aber immerhin noch aus Ziegeln gebaut. Die Wellblechsiedlungen fingen erst weiter draußen an.
    Clemencia rief Miki Matilda an und verlangte ihren Vater zu sprechen.
    «Bist du dort?», fragte er.
    «Ich weiß die Grabnummer nicht», sagte Clemencia.
    «Ich …», sagte ihr Vater, «ich habe sie nie besucht, kein einziges Mal. Ich konnte einfach nicht.»
    6949, 6950.
    «Nach der Beerdigung …» Ihr Vater brach ab.
    «Ich finde es schon. Mach dir keine Sorgen!» Clemencia ging an den Gräbern entlang. 6961, 6962. Unmöglich, dass es so weit hinten gewesen war! Sie sollte umkehren und noch einmal bei den Fünftausender-Nummern suchen. Nur noch diese eine Reihe!
    6968. Clemencia blieb stehen. Das Grab vor ihr war nicht das ihrer Mutter, aber vielleicht hätte es ihr gefallen. Es war mit hellen Kieseln aufgeschüttet, die von einer dunkelgrauen Granitumfassung gehalten wurden. Aus dem gleichen Material war der Grabstein gehauen. Auf ihm stand in weißer Schrift: «Anton Lubowski, 3. Februar 1952   –   12. September 1989. Wir sind stolz auf dich. Deine Eltern, Geschwister und Kinder».
    Auf den Kieseln lag eine umgestürzte rostige Blechdose. Sonst sah das Grab schön aus. Ordentlich. Schlicht. Und beständiger als die Erdhügelgräber, die aus dem Boden wuchsen wie hässliche Geschwülste. Die von jeder heftigen Regenzeit eingeebnet werden konnten. An diesem Grab lag es nicht, wenn der Tote immer noch keine Ruhe fand. Clemencia hätte es ihm gewünscht. Das war alles. Gedanken an Wahrheit und Lüge, Heldentum und Verrat, Gerechtigkeit und Anmaßung wollten sich nicht einstellen. Zu viele Tote, dachte sie.
    Clemencia richtete die Blechdose auf, rückte sie hier- und dorthin, entfernte sie dann ganz von der Kieselfläche. Die drei Jungen waren von der Mauer herabgeklettert und näherten sich neugierig. Clemencia stellte die Rosen versuchsweise in die Dose. Sie war zu flach und die Öffnung zu breit. Die Blumen kippten auseinander, ließen die Köpfe hängen. Es sah armselig aus.
    «Was machst du da?», fragte einer der Jungen.
    Clemencia legte die Rosen auf den hellen Kies und fächerte sie ein wenig auf. Das war schon besser.
    «Liegt dein Mann hier?», fragte der Junge.
    «Nein.» Clemencia schüttelte den Kopf. «Das ist Anton Lubowskis Grab.»
    Der Junge kratzte sich am Unterarm. Die Haut war aufgeschürft und schien sich entzündet zu haben. Der Junge fragte: «Und wer war Anton Lubowski?»

NOTWENDIGES NACHWORT
    Seit ich von Anton Lubowski zum ersten Mal hörte, haben mich seine Persönlichkeit und der Mord an ihm gefesselt und nicht mehr losgelassen. Ich habe mir nicht eingebildet, den Fall nach zwanzig Jahren lösen zu können, doch hätte ich auch nicht erwartet, so grandios daran zu scheitern. Je mehr ich
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