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Die Stunde des Schakals (German Edition)

Die Stunde des Schakals (German Edition)

Titel: Die Stunde des Schakals (German Edition)
Autoren: Bernhard Jaumann
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Fenster. Ihr Handy hielt sie immer noch in der Hand. Sie suchte Miki Selmas Nummer heraus.
    «Clemencia», sagte Miki Selma, «ich bin gerade in einer äußerst wichtigen Chorversammlung. Also mach schnell!»
    «Ich wollte nur …»
    «Was?»
    «… reden», sagte Clemencia.
    «Kindchen», sagte Miki Selma, «das ist jetzt wirklich ungünstig. Die Stimmführer sollen neu gewählt werden, und da meine ich wie viele andere auch, dass es so nicht weitergehen kann. Denn wie sagt schon das Sprichwort: Was den Fuß entlangkriecht, kriecht später das Schienbein hinauf. Nur sehen das noch nicht alle so, und deswegen … Das erkläre ich dir ein andermal. Ich würde dich ja nachher zurückrufen, aber …»
    «Du hast leider kein Guthaben», sagte Clemencia.
    «Versuche es doch in zwei Stunden wieder!» Miki Selma legte auf.
    Miki Matilda hatte gerade einen potenziellen Patienten da und deswegen auch keine Zeit. Immerhin gab sie ihr Handy an Clemencias Vater weiter. Aus einer spontanen Eingebung heraus sagte Clemencia, dass sie auf den Friedhof gehen wolle, um Mutters Grab zu besuchen. «Kommst du mit?»
    Ihr Vater schwieg ein paar schwere, düstere Sekunden lang und antwortete dann: «Nein.»
    Er war ein alter, gebrochener Mann. Clemencia wollte nichts aufwühlen und ihm schon gar keine Vorhaltungen machen. Sie sagte: «Klar, natürlich. Es war nur eine Frage.»
    Sie würde trotzdem gehen. Erst würde sie Blumen kaufen, ein paar rote Rosen, so viele, wie sie für das Geld bekam, um das sie van Wyk anpumpen konnte, und dann würde sie nach Katutura auf den Friedhof fahren. Es wäre ihr nur lieber gewesen, wenn jemand sie begleitet hätte.
    Als sie mit fünf Rosen aus dem Blumenladen an der Ecke Independence Avenue/Fidel Castro Street trat, rief sie Claus Tiedtke an. Der war für eine Reportage unterwegs. Ein Trupp städtischer Arbeiter hatte bei Baumaßnahmen an der Einfahrt zur Kleinsiedlung Barcelona ein versteinertes Tierskelett ausgegraben. Es könnte sich um einen urzeitlichen Saurier handeln. Genaues wisse man noch nicht, man warte auf einen südafrikanischen Spezialisten, der nach ersten Fotos sein sofortiges Kommen zugesagt habe. Die Bewohner der Siedlung fluchten, weil sie nur noch zu Fuß nach draußen gelangten. Er, Tiedtke, habe schon ein paar schöne Originalzitate. Das eigentlich Erstaunliche sei aber, mit welcher Sorgfalt die Männer die Knochen freigelegt hätten. Von städtischen Arbeitern würde man doch nicht erwarten, dass sie darauf achteten, was sie mit ihrem Gerät zerstörten. Seien es Wasserleitungen oder archäologische Schätze.
    Clemencia verriet nicht, dass es sich um ihren Bruder Melvin und seine Kumpels handelte. Sie sagte auch nicht, dass Tiedtkes Auto in einem Rivier fünfzig Kilometer außerhalb von Windhoek festsaß, und sie bat ihn erst recht nicht darum, sie zu begleiten, obwohl sie ihn ja deswegen angerufen hatte. Sie würden telefonieren.
    «Heute Abend vielleicht?»
    «Ja, warum nicht?»
    Zu Fuß brauchte Clemencia eine knappe Stunde bis Katutura. Das Gittertor zum Friedhof stand offen. Die Alten nannten ihn Golgatha, doch ob das der offizielle Name war, wusste Clemencia nicht. Der vordere Bereich erinnerte an eine Geröllwüste. Auf der Größe eines Fußballplatzes kein Baum, kein Strauch, nur kleine Erdaufschüttungen, die Ameisenbauten hätten sein können, wenn sie nicht in schnurgeraden Reihen und so dicht nebeneinander gelegen hätten. Und wenn nicht jeweils ein oben abgerundeter Stein mit einer Nummer sie gekennzeichnet hätte. 751, 752, 753. Das waren die Kindergräber. Verstorbene Säuglinge und Kleinkinder, die keinen Gedenkstein und keinen Namen hatten, an den sich jemand erinnern mochte. Es waren viele – viel zu viele.
    Clemencia wandte sich nach links, an der Mauer entlang. Das Gelände fiel ein wenig ab, ein paar Akazien kümmerten vor sich hin, die Nummern wurden vierstellig. Immer mehr Grabsteine tauchten zwischen den Erdhügeln auf, manche zerborsten und weggekippt, andere kaum berührt von Wind und Wetter und vom Vergessen. Vor zweien lagen Plastikgebinde, doch auf keinem einzigen Grab sah Clemencia echte Blumen, geschweige denn eine Bepflanzung. Wasser gab es hier nicht. Das Land der Tapferen war schon für die Lebenden harsch genug. Man konnte sich nicht auch noch darum kümmern, wonach die Toten dürsteten.
    Clemencia betrachtete die fünf Rosen in ihrer Hand. Das tiefe Rot der Blüten, das lebendige Grün der Stängel wirkten fehl am Platz. Na und? Dann war
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