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Die Stunde des Löwen

Die Stunde des Löwen

Titel: Die Stunde des Löwen
Autoren: Alexander Köhl
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getroffen hatte, war er schließlich doch noch eingeschlafen.
    Nach der Ortsausfahrt nahm Fremden die B 45 in Richtung Höchst. Hinter Mümling-Grumbach hing er eine Weile hinter einem Lastwagen fest. Über ein schneebedecktes Feld rechts vor ihm tuckerte ein Traktor. Der Auspuff an der Kabine blies stotternd dunkle Rauchwolken in den Himmel.
    Bruckner hatte begeistert geklungen, als Fremden ihn nach dem Aufstehen angerufen und ihm die frohe Botschaft überbracht hatte, dass er den Fall übernahm. Da falle ihm aber ein gewaltiger Stein vom Herzen, hatte er gesagt, selbstverständlich könne Fremden gleich vorbeikommen, um sich unter der Belegschaft des Familienbetriebs ein wenig umzuhören. Erleichtert darüber, dass Bruckner keinen Verdacht gegen ihn zu hegen schien, hatte Fremden das Gespräch beendet und sich auf den Weg gemacht.
    Pietät Bruckner hatte seinen Sitz mitten im Frankfurter Bahnhofsviertel. Ein Altbau und ein mit Waschbeton verkleidetes Geschäftshaus flankierten das vierstöckige Gebäude in der Münchener Straße. Fremden parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor einem Internetcafé.
    Das Schaufenster des Bestattungsunternehmens war spartanisch dekoriert. Nur wenige Urnen und Grableuchten präsentierten sich darin auf verschieden hohen Podesten. »Im Sterbefall sind wir für Sie da« , stand auf einem weißen Emailleschild. Darunter »Tag und Nacht dienstbereit« und eine Telefonnummer, unter der ein Mitarbeiter jederzeit erreichbar war.
    Fremden betrat das Ladengeschäft durch eine zweiflügelige Tür aus Milchglas. Eine Glocke mit nostalgischem Klang kündigte seine Ankunft an. Mit dem Verweis, beim Geschäftsführer einen Termin zu haben, überreichte er der Empfangsdame eine Visitenkarte.
    Während sie ihn in den hinteren Teil des Gebäudes begleitete, erhaschte er durch ein Fenster einen Blick in den Hof. Vor dem eingeschossigen Anbau parkte ein mit Gardinen verkleideter Mercedes-Transporter, der gerade mit einem Sarg beladen wurde.
    Die Zeit, die er im Besprechungsraum auf Klaus Bruckner warten musste, nutzte er, um sich die ausgestellten Särge anzusehen. Spalierartig waren die verschiedenen Varianten aufgereiht. An der Wand zum Hof stand eine Vitrine mit Leichenschmuck. In der daneben befand sich Bestattungswäsche: Kissen, Decken, Tücher, Hemden, Gewänder, Talare und Spruchbänder.
    Â»Unser Betrieb besteht seit über achtzig Jahren«, hörte er Bruckner von der Tür her sagen. »Von mir wird er nun in der dritten Generation geführt.«
    Fremden drehte sich um und ging ein paar Schritte auf Bruckner zu, um ihn zu begrüßen. An diesem Morgen trug der Bestatter einen dunkelgrauen Wollanzug, ein weißes Hemd mit silbernen Manschettenknöpfen und eine schwarze Krawatte mit Streifenmuster. Sein Blick wirkte – wie auch schon tags zuvor – eigentümlich starr.
    Während er ein weiteres Mal seine Freude über die Übernahme des Auftrags zum Ausdruck brachte, führte ihn Bruckner zu einer Sitzgruppe aus Ledersesseln. »Die Aufnahme, um die Sie mich gebeten haben, habe ich natürlich auch dabei.« Er langte in die Innentasche seines Jacketts und legte ein Foto auf die Marmorplatte des Tischs. »Das ist mein Vater. Ich habe extra ein Bild ausgesucht, das noch nicht so alt ist.«
    Fremden betrachtete das Porträt, das einen stattlichen Herrn Anfang siebzig zeigte. Die charakteristischen Gesichtszüge und das volle silbergraue Haar ließen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Mario Adorf erkennen.
    Â»Wissen Sie, ob Ihr Vater vor seinem Tod mit jemandem Ärger gehabt hat?« Eine der Fragen, die er sich auf der Herfahrt zurechtgelegt hatte.
    Â»Dazu kann ich leider nichts sagen. Wissen Sie, damals hatte ich kaum persönlichen Kontakt zu meinen Eltern.«
    Â»Kaum Kontakt? Verzeihen Sie die Frage, aber –«
    Â»Ich lebte zu der Zeit in Houston«, unterbrach ihn Bruckner.
    Â»Houston in Texas?«
    Â»Ein anderes Houston kenne ich nicht. Ich habe einige Jahre in den USA verbracht, bevor ich nach Vaters Tod die Geschäfte übernahm. Beruflich wollte ich damals noch andere Wege gehen. In den USA passierte auch der schreckliche Unfall.« Er wies auf sein Bein. »Auf dem Highway raste ein Truck in meinen Wagen. Dabei hatte ich noch Glück im Unglück. Anstelle des Lebens verlor ich nur ein Auge, und mein Knie
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