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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
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nickte. Timm hatte die Angewohnheit, sie immer wieder an die selbstverständlichsten Dinge zu erinnern. Selbstverständlich mußten die Karten vernichtet werden. Et sah Timm zu, wie der an der Zigarette sog.
    „Ob ich mir auch eine anbrenne?" fragte er unschlüssig. Timm machte mit der freien Hand eine zustimmende Bewegung.
    „Rauch doch!" forderte er Bindig auf. „Wenn den Kleinen an der Brücke niemand sieht, dann sieht die Zigaretten auch niemand. Hast du welche mit?" Er machte eine Bewegung nach seiner Tasche. Aber Bindig sagte schnell: „Laß nur, ich habe welche."
    Die ersten Züge an der Zigarette versetzten ihn in eine seltsam gehobene, zuversichtliche Stimmung. Immer wieder war das so: Eine Zigarette, zu einer bestimmten Zeit geraucht, konnte aus einem schlappen Mann einen gespannten, sprungbereiten machen.
    Timm trat nahe an ihn heran und sagte gedämpft: „Es ist interessant, diese Stelle liegt so weit hinter der Front, daß sich niemand mehr hier herumtreibt. Sie haben alles kurz hinter der Front liegen. Weiter zurück ist nichts. Wer weiß, wie weit nichts ist. Nichts, mit Bahnlinien dazwischen, auf denen ihre Züge fahren, und Straßen mit Autos. Als wir angriffen, machten wir es genauso. Sie wissen schon, was sie wollen: Alles nach vorn, die Panzer und die Geschütze und die Autos und die Orgeln. Und dann rollen sie los und kümmern sich nicht um das, was hinter ihnen ist. Sie preschen nur vorwärts. Was sie hinter sich lassen, fällt sowieso zusammen.―
    Von der Brücke kam ein klirrendes Geräusch. Dann zogen die drei Soldaten den kleinen Oberkellner auf den Damm. Er hielt sich nicht eine Sekunde auf. Er ging sofort weiter, bis er am zweiten Pfeiler angelangt war, und die drei Soldaten ließen ihn wieder hinab.
    „Eigentlich sind sie gar nicht so dumm...", sagte Bindig. Timm sah ihm ins Gesicht.
    „Wer?"
    „Die Russen."
    Der Unteroffizier zog bedächtig an der Zigarette, bevor er sagte: „Das kannst du mir sagen. Aber sonst niemandem. Grundsätzlich !"
    „Jawohl", sagte Bindig. Er lachte leise, aber Timm beachtete es nicht. Er tippte ihm auf die Schulter und sagte: „Geh zu der Zeltbahn. Zwischen den Handgranaten liegen drei Flaschen Wodka. Von denen in der Bude dahinten. Eine davon nimmst du für dich und Zado. Sauft sie gegen Morgen, wenn euch kalt wird - und erst wenn ihr am Ziel seid. Und eßt ein paar Kekse dazu."
    Als Bindig mitten auf der Brücke wieder mit Zado zusammentraf, merkte er, daß dieser leicht zitterte. Er stand zusammengekrümmt zwischen den Schienen, den Kopf ein-gezogen.
    „Was ist?" fragte er ihn.
    „Kalt", sagte Zado, „verflucht kalt."
    Er gab ihm die Flasche. Zado steckte sie wortlos ein. Er nahm auch die Karte unbesehen und hörte dabei nicht auf, mit den Zähnen zu klappern. Plötzlich schüttelte er sich und stampfte ein paarmal mit den Füßen auf den Steinschotter zwischen den Schienen. Er schüttelte sich wie ein naß gewordener Hund, und nachdem er sich beruhigt hatte, sagte er einigermaßen verständlich und ohne mit den Zähnen zu klappern: „Ich habe ein verdammt unsicheres Gefühl. Ich werde froh sein, wenn wir diese gottverfluchte Brücke hinter uns haben."
    Er blickte nachdenklich auf die Zigarette, die Bindig in der hohlen Hand hielt.
    „Gib mir eine", bat er dann, „vielleicht werde ich nach der Zigarette wieder ein richtiger, mutiger Germane."
    Es gelang ihm kein Scherz, und er wußte selbst nicht weshalb. Er hatte nur einen Gedanken: Weg von dieser Brücke und von den sechs Leichen! Es war nicht das erstemal, daß er solche Gedanken hatte. Er war daran gewöhnt, daß sie immer wieder auftauchten, und immer, wenn sie kamen, zermürbten sie ihn.
    Die drei Soldaten zogen den Oberkellner wieder auf den Damm. Er reckte sich ein paarmal, dann hakte er das Seil vom Gurt ab und öffnete die Schnalle.
    Sie sahen, daß er die Drähte von den Sprengladungen mit auf den Damm hinaufgezogen hatte. Es dauerte einige Minuten, dann hatte er zusammen mit den anderen ein Stück des Untergrundes der Schienen tief ausgehöhlt. Einer schleppte die Handgranaten heran. Sie packten sie unter die Schienen und verdämmten sie. Der Oberkellner lauschte mit schief gelegtem Kopf. Der Schweiß stand ihm auf der rußigen Stirn, und seine Hände waren von der Arbeit an den Pfeilern zerschunden. Als Bindig zu ihm trat, sagte er heiser: „Wir lassen es den nächsten Zug selbst machen..." Er raffte schnell die Drähte zusammen und machte sich daran, die Zündung
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