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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
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Es gab keinen Einsatz dieser Art, bei dem nicht irgend etwas anders lief, als es vorausgesehen war. Möglich, daß die Sprengladung, die der Oberkellner noch unter die Reste des auf der Brücke hängenden Zuges gelegt hatte, nicht zündete. Timm rief die Männer zusammen, bevor sie sich quer durch den Wald auf den Weg machten. Er hockte sich zwischen sie, und er war wieder der alte Timm, der Mann, der genau weiß, was er macht, und der keine Vorschrift achtet, wenn es darauf ankommt, den eigenen, besseren Kopf und den besseren Instinkt gegen den der anderen auszuspielen. Er reichte eine Schachtel Zigaretten herum, und die Männer zündeten sich die Zigaretten an der winzig kleinen Flamme seines Feuerzeuges an.
    „Nachher raucht ihr nicht mehr", sagte er beiläufig. „Ihr wißt nicht, was rechts und links von euch liegt."
    Er war sich gewiß, daß die Männer dieses Gebot einhalten würden; denn er sorgte dafür, daß seine Anordnungen niemals so unbequem waren, daß sie Unwillen hervorriefen.
    „Ich habe es mir überlegt", sagte er dann, die Asche von der Zigarette mit dem kleinen Finger abstreifend, „wir werden alle unsere Karten vernichten. Bis auf eine. Die nehme ich." Er wartete die Reaktion ab, aber sie war nicht anders, als er es erwartet hatte. Wieder begann er darüber nachzudenken, daß heute alles viel zu glatt ging. Die Soldaten zogen die Kartenblätter hervor, aber bevor sie sie ihm gaben, prägten sie sich genau den Weg ein, den sie zu nehmen hatten. Es war einfach, den Weg zu finden. Alle Pfade in diesem Wald führten zu seinem nördlichen Rand. Dorthin mußten die Männer gehen. Und von da ab begann ein unübersichtliches, mit Gehölz und Buschwerk bewachsenes Gelände, in dem die beiden Seen lagen, zwischen denen sie hindurch mußten. Das Gelände änderte sich auch später nicht.
    Lediglich eine Straße gab es hier. Die mußten sie überqueren. Danach ging es zwischen Gehölzen und Buschwerk weiter, Kilometer um Kilometer, immer nordwärts, bis der nächste See vor ihnen lag. Hinter diesem See war eine weite, ebene Fläche. Da würde das Flugzeug landen. Es war einfach, dorthin zu finden. Man brauchte sich nur die Richtung einzuprägen. Der kleine Oberkellner gab Timm zuerst seine Karte. Er legte sie ihm auf das Knie und brummte: „Jetzt sind Sterne da, und morgens sieht man, wo Norden ist."
    Timm nickte. Er sammelte die Blätter ein und begann sie in kleine Schnitzel au zerreißen. Er scharrte mit dem Messer eine Grube in die Erde und verbarg die Papierschnitzel darin. Die Männer rauchten gelassen ihre Zigaretten weiter. Die Spannung der letzten Stunden war noch nicht von ihnen gewichen. In diesem Zustand waren sie einsilbig und gereizt.
    „Paßt auf", sagte Timm, sich erhebend, „wir müssen los. Bald kann der nächste Zug kommen. Wenn es irgendwo etwas gibt, müßt ihr auf mich achten. Wenn es ganz überraschend kommt, müßt ihr ihnen meine Leiche abnehmen. Die Karte habe ich zusammengefaltet in der linken Hand. Streichholzschachtelgröße. Dauert es länger als eine halbe Minute, dann habe ich sie inzwischen unten." Die Soldaten nickten. Einer sagte halblaut: „Guten Appetit!" Timm drückte den Stummel aus und tippte nachlässig an den Helmrand.
    Der Oberkellner sagte: „Wir werden um deine Leiche nicht bloß wegen der Karte kämpfen. Aus der Karte können sie noch lange nicht sehen, wo die Maschine landen wird. Aber du hast die Signallichter in der Tasche,"
    „Die habe ich", erwiderte Timm, während er die Maschinenpistole vor die Brust zog und mit dem Zeigefinger der rechten Hand in den Abzug fuhr; „und sauft nicht den ganzen Wodka!"
    Er ging allein. In solchen Fällen ging er immer allein und kümmerte sich nicht darum, ob die anderen Schwierigkeiten hatten. Jeder mußte selbst fertig werden. Das war Timms Erziehung, und die stand nicht in der Dienstvorschrift. In der Dienstvorschrift stand, daß sich der Trupp nach beendeter Aktion geschlossen und unter Timms Führung zurückzuziehen hatte auf Position X. Aber die Männer wußten, daß es richtig war, einzeln zu gehen. Einer konnte Pech haben. Gingen sie zusammen, hatten alle anderen mit ihm Pech. Und warum soll gerade ich der eine sein, der Pech hat? dachte jeder der Soldaten.
    Timm hörte die Explosion, als er schon ein weites Stück Weg zurückgelegt hatte. Er bewegte sich auf einem schmalen Pfad, der beinahe schnurgerade nach Norden lief. Es war ein bemooster Waldpfad, auf dem die Füße kaum ein Geräusch verursachten.
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