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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
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Timm verstand es, auf solchen Pfaden zu gehen. Er setzte die Füße vorsichtig auf, niemals sofort mit der ganzen Sohle und auch nicht in der üblichen Art, mit dem Absatz zuerst. Er trat mit der Außenkante der Sohle auf, und auf diese Art ging er zwar wie ein betrunkener, krummbeiniger Reiter, der stundenlang auf seinem Gaul gesessen hat, aber er spürte jedes kleine Ästchen sofort und konnte dann das Gewicht auf den anderen Fuß verlagern und den knackenden Holzstückchen ausweichen.
    Man muß immer wach sein, dachte er, auf solchen Touren muß man immer wach sein, man darf keine Sekunde schlafen. Das kann das Leben kosten. Überhaupt heute. Es ist ein verfluchtes Gefühl, wenn alles so reibungslos abgeht! Wenn einer von diesen vier aus dem Bahnwärterhäuschen zurück geschossen hätte, dann läge jetzt nicht dieser Druck auf meiner Brust. Dann würde mein Finger im Abzug der Maschinenpistole nicht zittern. Und er zittert nicht nur vor Kälte.
    Die Explosion klang dumpf. Aber der Donner ließ ahnen, daß sie ihren Zweck erreicht hatte. Timm blieb ein paar Sekunden lauschend stehen.
    Er konnte die Sterne durch die dürren Baumkronen sehen. Die Nacht war kalt, klar und still. So kurz vor dem ersten Schnee sind die Wälder immer still, dachte Timm. Er lauschte, aber es kam kein Geräusch mehr von der Brücke. Vor ihm auf dem Pfad stand stellenweise verdorrtes, sehr hohes Waldgras. Es ist ein Pfad, den selten einer gegangen ist in der letzten Zeit. Wenn trockenes Waldgras niedergetreten wird, richtet es sich nicht mehr auf, dachte er. Er ging mit angespanntem Gesicht weiter. Es war mehr ein halbgebücktes Schleichen, denn ab und zu hingen Äste über den Pfad, die er nicht berühren wollte. Wenn ich in diesem Tempo weitergehe, bin ich in zwei Stunden am See, dachte er. Ob an der Straße was los ist? Die Aufklärer sagen: nur wenig Fahrzeuge. Er ging mit federnden Gelenken weiter. Einen Kilometer, noch einen. Und noch einen und einen weiteren.
    Das Mädchen, an das er dachte, lebte in dem Nest, in dem der Regimentsstab untergebracht war. Keine Hiesige, eine aus Breslau. Eine Lehrerin, die sich in den Kopf gesetzt hatte, ein Dutzend Kilometer hinter der Front Kinder zu unterrichten, die nachts neben den gepackten Koffern der Eltern schliefen. Sie war nichts Besonderes, aber sie schlief nicht mit jedem, und das war immerhin in diesen Zeiten ein achtbarer Grundsatz. Timm hatte sich in sie verlieben müssen, bevor sie ihn über Nacht bei sich behielt. Man muß sich anzupassen verstehen. Morgen werde ich dem Furier ein paar Tüten von diesem rosa Puddingpulver abschwatzen, dachte er, jedesmal erzählt sie mir, wie wunderbar Pudding schmeckt, wenn er richtig zubereitet ist. Mit Rosinen und Mandeln. Und mit Zitronen- stückchen. Ob sie Rosinen hat? Mandeln? Zitronen hat der Furier auch nicht. Aber Puddingpulver hat er ein halbes Auto voll. Sie hatten es irgendwo auf dem Rückzug mitgenommen, weil nichts anderes da war. Vielleicht ist er froh, wenn er was davon los wird. Diesmal werde ich drei Tage bei ihr bleiben. Es läßt sich machen. Der Leutnant wird ja sagen. Ihm geben sie das Ritterkreuz, wenn wir die Russen hier an dieser Kante so stoppen, daß sie nicht zum Angriff kommen. Und wer macht die Arbeit? Timm! Also wird Timm drei Tage bei der Lehrerin Hannelore rosa Pudding essen. Mit oder ohne Rosinen. Ich werde ihr überhaupt...
    Er warf sich blitzschnell hin und blieb eine endlos lange Zeit ohne Bewegung liegen. Aber es schien nur so, als ob er sich nicht bewegte. Er hatte die Maschinenpistole im Anschlag und lauerte darauf, daß ihn jemand anrief, daß ein Gewehrschloß knackte. Es ereignete sich nichts. Da zog Timm unendlich langsam die Oberschenkel an den Leib und richtete sich so weit auf, daß er über die Büsche hinweg die Lichtung sehen konnte.
    Eigentlich war es keine Lichtung, sondern nur eine Stelle im Wald, an der die Bäume sehr weit standen. Es gab auf mehrere hundert Meter nur dünne Stämmchen und Büsche. Timm hatte weiter nichts gesehen als das kurze, dicke Rohr eines Sturmgeschützes.
    Er blieb regungslos an der Außenseite des Waldpfades liegen. Er rührte sich kaum dabei, als er mechanisch die zusammengefaltete Karte zum Mund führte. Er biß und kaute darauf herum, während seine Augen weit geöffnet auf das Fahrzeug starrten, daß ihm die Breitseite zukehrte. Er erkannte es sofort als ein sowjetisches Geschütz. Es war gedrungener gebaut als die deutschen Geschütze. Das Rohr war kurz, konisch
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