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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
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und dick. Es war waagerecht gekurbelt, in Ruhestellung. Timm erkannte jetzt auch die Raupenketten und das Heck des Fahrzeuges mit den Auspufftöpfen. Und er sah, daß es nicht allein hier stand. Es war nicht abgeschossen, vergessen, kein Wrack mit rostenden Stahlplanken. Es war eins von vielen Geschützen, die zwischen den Bäumen parkten. Timm konnte sie sehen. Sie standen nicht weit voneinander entfernt, manche gegen Fliegersicht mit Reisig abgedeckt. Es waren ein Dutzend oder mehr. Man konnte sie nicht alle sehen, und es war zu vermuten, daß ein Teil von ihnen noch weiter entfernt im Dunkel unter den Bäumen parkte. Sie standen ungeordnet da, und Timm übersah die Lage sofort. Es war eine Bereitstellung. Eine Batterie oder auch zwei oder drei, die hier in Abruf Stellung lagen. Neues Material aus dem Osten, für den kommenden Angriff zusammengezogen, aber noch weit von der Front entfernt. So weit wie der Angriff vom heutigen Tag.
    Es rührte sich nichts bei den Fahrzeugen. Nirgends war ein Posten zu sehen, so sehr Timm seine Augen anstrengte. Er kaute erregt auf dem ekelhaft schmeckenden Papier des Kartenblattes, bis er fühlte, daß es nur noch aus einem Brei von Papierfasern bestand. Da ließ er es aus dem Mund gleiten und schob es vorsichtig unter das Laub. Er spürte, wie der Schweiß auf seinem Rücken eiskalt wurde. In die Lenden kroch ein ziehendes, sich bis in die Oberschenkel fortpflanzendes Gefühl. Timm hatte Angst vor dem Posten, den er nicht sah und der doch irgendwo stehen mußte, zwischen den Bäumen versteckt, ihn regungslos beobachtend. Er biß sich schmerzhaft in die Lippe, als er merkte, daß seine Hände zitterten. Du darfst nicht die Nerven verlieren, Junge, sagte er sich. Er redete es sich ein und bemühte sich, die Hände stillzuhalten und des Gefühls in den Lenden Herr zu werden. Du mußt ganz ruhig bleiben, Timm. Wenn er dich gesehen hat, dann wird er über kurz oder lang doch schießen, oder er wird dich anrufen. Wenn er dich gesehen hat! Aber warum soll er dich gesehen haben? Vielleicht schläft er unter seinem Baum. Vielleicht haben sie gerade abgelöst. Übrigens hätte er dich längst angerufen, wenn er dich gesehen hätte. Unsinn! Er hat dich nicht gesehen! Er wird dich auch nicht sehen. Denn wenn du ihn kommen hörst, wirst du still auf der Erde liegenbleiben wie ein Baumstumpf. Er bewegte sich nicht. Er starrte nur geradeaus, und er fühlte, wie ihm der Schweiß unter dem Helm hervorrann.
    Er kann dich aber doch gesehen haben, überlegte er wieder. Er kann dich gesehen haben und dich jetzt ganz genau in seinem Visier haben. Er kann abwarten, mit dir spielen, weil er genau gesehen hat, wer du bist. Er kann grinsend hinter einem solchen Baum hocken und dich beobachten, du entgehst ihm nicht. Sie haben gute Augen. Und sie hören gut. Mag sein, daß sie nach Knoblauch stinken und nach Machorka, aber sehen und hören können sie. Mach dir nichts vor, Timm, er sitzt hinter seinem Baum und lauert. Und er wird dich töten. Es gibt keinen Zweifel, er wird dich töten, aber erst dann, wenn er sicher ist, daß du allein bist, oder überhaupt erst dann, wenn er es für richtig befindet. Er läßt dich zappeln wie die Maus in der Falle. Er will dich nervös machen, es gelingt ihm auch. Er läßt dich hier liegen, bis du irrsinnig bist vor Angst und aufspringst, und dann knallt er dich ab wie der Jäger ein auffliegendes Rebhuhn.
    Es war, als bliebe das Blut in seinen Adern stehen, als wäre sein Körper mit einemmal nicht mehr warm und lebendig, sondern eiskalt, starr. Dann schüttelte ihn der Frost, und er strengte sich vergeblich an, die Hände ruhig zu halten. Er hatte längst den Finger aus dem Abzug der Maschinenpistole nehmen müssen. Er biß die Zähne zusammen, denn er meinte, daß das Geräusch bei ihrem Aufeinanderklappen bis an das Sturmgeschütz zu hören sein müsse. Um ihn herum war es still. Es regte sich nichts. Das war es, was Timm nervös machte. Wenn in diesem Augenblick auf der Lichtung vor ihm die Soldaten durcheinander gerannt wären, wenn die Scheinwerfer sich in das Walddunkel gefressen hätten und die aufs Geratewohl abgefeuerten Gewehrschüsse durch die Büsche neben ihm geprasselt wären, dann wäre Timm ruhig gewesen. Die Stille war es, die ihn ängstigte. Er lag am Rand des Waldpfades auf dem Bauch und biß sich die Lippe blutig. Erst als einige Minuten vergangen waren, spürte er plötzlich den Schmerz in der Lippe. Er sagte sich, diese Lippe wird Hannelore nicht
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