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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
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marschierten weiter, sich nach den Sternen orientierend. Sie betraten unbekanntes Gebiet, das weder auf dem Kartenblatt noch in dem Sandkasten zu sehen gewesen war, den sie beim Stab für diesen Einsatz aufgebaut hatten. Nach einer Stunde hörten sie keine Schüsse und keine Handgranaten mehr. Sie kamen in die Nähe der Straße, die sie kreuzen mußten, und auf der Straße fuhren Autos mit angehängten Geschützen. Es waren kurze Kolonnen, dazwischen flitzten kleine, wendige Stabsfahrzeuge. Nach einer halben Stunde gelang es ihnen, die Straße zu überqueren. Der Wald auf der anderen Seite verschluckte sie, und sie marschierten viele Kilometer in diesem Wald weiter nach Osten, bevor sie wieder nordwärts abbogen.
    Vor ihnen lag buschiges, unübersichtliches Gelände, flach und langweilig. Timm hatte am Handgelenk einen winzigen Kompaß baumeln. Er führte die beiden anderen sicher. Er war gewiß, der Gefahr entronnen zu sein. Sie hatten eine weite Strecke zwischen sich und den Platz der Schießerei gelegt. Hier war das Gebiet, das hinter jeder Front immer am wenigsten beaufsichtigt war. Das Gebiet zwischen den Stellungen und den Etappenorten. Die leichte Artillerie stand weiter vorn, die schwere war viele Kilometer östlich stationiert. In diesem Gebiet spielte sich das Leben nur auf den Straßen und Wegen ab. Die Wälder waren still.
    Als der Morgen graute, hatten die drei den großen Bogen beinahe vollendet. Sie waren müde und hungrig. Ihre Schritte waren schlapp, und Timm wußte, daß ihre Aufmerksamkeit nachgelassen hatte. So, wie sie jetzt waren, würden sie am hellen Tage in eine russische Kolonne hineinlaufen. Er beeilte sich, vorwärts zu kommen, und trieb sie an, bis er die Wasserfläche des Sees in der Morgendämmerung erkennen konnte. Da ließ er sie zurück und begann den Landeplatz zu suchen. Er fand ihn und überzeugte sich davon, daß er brauchbar war. Er mußte alle Kräfte zusammennehmen, als er auf einen einzeln stehenden Baum kletterte, um die Gegend zu überblicken. Er konnte weit ins Land sehen, aber solange er auch Ausblick hielt, er bemerkte nichts, was sich bewegte, nichts, was seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Auf dem Rückweg fand er eine Mulde im Boden, die mit Gestrüpp überwuchert war. Er stieg hinein und stellte fest, daß sie drei Leuten Platz bieten würde. Da holte er die beiden anderen nach, führte sie zu der Mulde und sagte: „Legt euch hin und schlaft. Ich wecke euch, wenn ich müde bin."
    Thomas Bindig erwachte, als es bereits spät am Abend war. Er fühlte die Kälte in all seinen Gliedern und hob langsam den Kopf. Der Helm lag neben ihm, und der Lauf der Maschinenpistole zeigte genau in sein Gesicht. Er schob ihn gedankenlos beiseite und richtete sich auf. Die Zweige der Sträucher, zwischen denen er lag, hingen ihm ins Gesicht. Er bewegte die erstarrten Finger, und dann hörte er neben sich die Stimmen. Es war Timm, der sich mit Zado unterhielt. Er sah sie im gleichen Augenblick, sie hockten am Rand der Mulde und starrten auf die Ebene zwischen den Seen hinaus. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, und aus ihrem seltsamen Benehmen konnte er nicht klug werden. Sie beachteten ihn nicht, als er zu ihnen kroch, und er hockte sich neben Timm und fragte: „Warum habt ihr mich so lange schlafen lassen?" Timm antwortete nicht auf die Frage. Er reckte den Kopf und sagte leise zu Zado: „Wir müssen ihn holen. Er sitzt mitten auf dem freien Feld. Wenn er sich eine Zigarette anbrennt, wird man es bis Moskau sehen ..."
    „Was ist?" erkundigte sich Bindig. Er fühlte sich ausgeschlafen und erfrischt. Nur ein wenig durchgefroren.
    „Wir sollten immer ein Glas mitnehmen", sagte Zado. „Du siehst, daß man es manchmal braucht. Ob er der einzige ist, der davongekommen ist?"
    „Möglich", antwortete Timm. „Jedenfalls ist es der Kleine. Er muß etwas abgekriegt haben ..."
    Bindig konnte die Gestalt nicht erkennen. Er strengte seine Augen an, aber er sah an der Stelle, wo die anderen die Gestalt sitzen sahen, nur einen dunklen Brocken auf der Erde liegen. Es war schon zu dunkel, um mehr zu erkennen.
    Zado blickte ihn an und fragte: „Ausgeschlafen?"
    „Ihr habt mich den ganzen Tag schlafen lassen ...", sagte Bindig vorwurfsvoll. „Was war los?"
    „Nichts. Bis vorhin, als der Kleine auftauchte."
    Es war der Oberkellner aus Stuttgart. Sie hatten ihn schon von weitem gesehen, wie er, an den Saum der Büsche gedrückt, die den See umgaben, heranschlich. Sie hatten ihn
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