Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
Vom Netzwerk:
vorzubereiten. Er hatte sein eigenes System, das in keiner Sprengvorschrift zu, finden war. Er arbeitete mit einer winzigen Batterie. Aber die Batterie war nur ein Zubehör. Entscheidend war die Art, in der er seine Sprengung anlegte. Er nannte es „einen Haufen machen". Es war sein absolutes Geheimnis, weshalb er die Ladung manchmal unter der Lokomotive und manchmal erst mitten unter dem Zug detonieren ließ. Es richtete sich danach, ob der Zug auf einem erhöhten Bahndamm fuhr oder auf ebenem Land. Er kannte sich in den Wirkungen aus und berechnete die Ladung geradezu aufs Gramm genau. Er hatte einen Sprenglehrgang bei den Pionieren mitgemacht, und als er danach wieder zur Kompanie zurückkam, brachte er in einem verschlossenen Briefumschlag seine Beurteilung mit, in der Timm las, daß er für Sprengaufgaben völlig ungeeignet sei. Timm setzte ihn trotzdem ein, und nach dem ersten Einsatz wußte er, daß der Oberkellner besser sprengen konnte als der Leiter des Lehrgangs bei den Pionieren.
    Er lag auf dem Bauch und befestigte die Zündleitungen. Es dauerte lange, ehe er sich endlich erhob und noch einmal alles mit einem Blick überflog. Er maß noch einmal die Entfernung von den beiden Pfeilern zu der Stelle, wo die Handgranaten lagen, und das Ergebnis schien ihn zu befriedigen. Dann drehte er sich kurz entschlossen zu den anderen um und rief: „Los! Fertig! Fort jetzt!"
    Timm führte sie bis an den Waldrand im Norden der Brücke. Es war ein verfilzter Mischwald. Wenn man ein paar Schritte gemacht hatte, war man nicht mehr zu sehen. Es gab neben der Bahnlinie einen Weg, der frontwärts führte. Aber sie nahmen diesen Weg nicht. Sie suchten sich, immer zu zweit aufbrechend, kleine, versteckte Pfade, die zu den Seen führten, zwischen denen die Maschine sie abholen würde. Nach einigen Minuten war es am Waldrand still geworden. Die Männer waren verschwunden. Nur Bindig und Zado hockten, den Rücken an eine mächtige Buche gelehnt, vor dem Wald. „Die letzten", sagte Zado mißmutig, „wie immer!" Er langte in die Tasche und zerbrach einen Schokoladenriegel in zwei Teile. Bindig nahm die Hälfte, und Zado sagte: „Wenn wir sie wieder mit nach Hause nehmen, fressen sie sowieso bloß die Weiber." Er redete oft von Frauen, aber es gab in dem Dorf, in dem sie lagen, nur eine einzige. Eine dunkelhaarige Frau, die nicht sehr groß war, aber eine kräftige, wohlgebaute Figur hatte. Sie lebte auf ihrem Hof, und es hieß, daß sie Witwe sei. Bei ihr war nur ein junger, taubstummer, schwachsinniger Knecht. Als sie in das Dorf eingezogen waren, hatten sie die Frau vorgefunden. Irgend jemand hatte sie einmal gefragt, ob sie im Dorfe gewesen wäre, als die Russen es besetzt hatten. Sie hatte geantwortet, das sei ihr erspart geblieben, aber sie hatte es in einer solchen Art gesagt, daß sich die Männer zuflüsterten, sie wäre nicht zu haben, sie triebe es wohl mit dem schwachsinnigen Knecht. Manchmal fuhren die Männer mit irgendeinem Lastwagen ein paar Kilometer weiter westlich in eins der Dörfer, die noch bewohnt waren. Dort gab es Mädchen. Verdorbene, durch das Hin und Her der Front aus der Bahn geworfene junge Dinger, habgierig und geschäftstüchtig. Es gab dort Frauen, die ihre Töchter für einen Sack Zucker dem Furier des Regiments anboten, und solche, die es für ein paar Büchsen Fisch taten.
    Zado kaute die Schokolade wie Brot. Als er sie aufgegessen hatte, nahm er die Zigarette, die Bindig ihm zusteckte. Sie rauchten, die Lichtpünktchen der Glut in der hohlen Hand verbergend. Aus dem Wald kam ein feines Singen. Ein leichter Wind hatte sich erhoben und ließ die kahlen Zweige hin und her schwanken. Die Sterne flackerten unruhig, und die Luft roch nach Frost.
    „Wenn dieser verfluchte Zug bloß bald käme, damit wir abhauen können
    ..." , brummte Zado. Er zitterte nicht mehr. Er trug jetzt wieder den Stahlhelm
    und die Maschinenpistole, ebenso wie Bindig. Aber sie hatten die Mäntel der Posten anbehalten und die Pelzmützen auf die Stahlhelme gesetzt. Die Mäntel konnte man in dieser Nacht noch brauchen.
    „Ich habe schon Angst vor zu Hause...", sagte Bindig leise. „Dann kommen sie alle wieder, und man sieht ihre Augen. Es ist immer das gleiche. Man wird sie nicht los. Ich glaube, wir werden sie das ganze Leben nicht mehr loswerden ..."
    „Das ganze Leben ...", sagte Zado müde; „wer weiß, wie lange das noch dauert. Wir haben kein Leben mehr. Wir sind nur noch Leichen auf Urlaub. Fang bloß nicht jetzt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher