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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch
Autoren: Elias Canetti
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genau das, was er ruft, nicht mehr, nicht weniger, ein Bettler, blind. Aber der Ruf ist auch eine Vervielfältigung, die rasche und regelmäßige Wiederholung macht aus ihm eine Gruppe. Es ist eine besondere Energie des Forderns darin, er fordert für viele und heimst für alle ein. ›Denk an alle Bettler, denk an alle Bettler! Gott segnet dich für alle Bettler, denen du gibst.‹
    Es heißt, daß die Armen fünfhundert Jahre vor den Reichen ins Paradies eingehen werden. Durch Almosen kauft man den Armen etwas vom Paradies ab. Wenn jemand gestorben ist, ›folgt man zu Fuß, mit oder ohne trillernde Klageweiber, sehr schnell zum Grabe, damit der Tote bald zur Glückseligkeit gelange.
Blinde singen das Glaubensbekenntnis

.
    Ich habe mich, seit ich aus Marokko zurück bin, mit geschlossenen Augen und untergeschlagenen Beinen in die Ecke meines Zimmers gesetzt und versucht, eine halbe Stunde lang in der richtigen Geschwindigkeit und mit der richtigen Kraft ›Alláh! Alláh! Alláh!‹ zu sagen. Ich versuchte mir vorzustellen, daß ich das einen ganzen Tag und einen guten Teil der Nacht so weiter sage; daß ich nach kurzem Schlaf wieder damit beginne; daß ich es Tage und Wochen, Monate und Jahre fortsetze; daß ich alt und älter werde und so lebe, und zäh an diesem Leben festhalte; daß ich wütend werde, wenn mich etwas in diesem Leben stört; daß ich nichts anderes will, daß ich ganz darin verharre.
    Ich habe begriffen, welche Verführung in diesem Leben liegt, das alles auf die einfachste Art von Wiederholung reduziert. Wie viel oder wie wenig Abwechslung war denn in der Tätigkeit der Handwerker, die ich in ihren kleinen Gelassen arbeiten sah? Im Feilschen der Händler? In den Schritten der Tänzer? In den unzähligen Tassen Pfefferminztees, die alle Gäste hier zu sich nehmen? Wieviel Abwechslung ist im Geld? Wieviel im Hunger?
    Ich habe begriffen, was diese blinden Bettler wirklich sind: die Heiligen der Wiederholung. Aus ihrem Leben ist das meiste ausgemerzt, was sich für uns der Wiederholung noch entzieht. Es gibt die Stelle, an der sie hocken oder stehen. Es gibt den unveränderlichen Ruf. Es gibt die begrenzte Zahl von Münzen, auf die sie hoffen können, drei oder vier verschiedene Einheiten. Es gibt zwar auch die Geber, die verschieden sind, aber Blinde sehen diese nicht und in ihrem Dankspruch sorgen sie dafür, daß auch die Geber Gleiche werden.

 

DER SPEICHEL DES MARABU
    Ich wandte mich von der Gruppe der acht Blinden ab, ihre Litanei im Ohr, und ging nur wenige Schritte, als mir ein weißhaariger alter Mann auffiel, der ganz allein dastand, die Beine etwas gespreizt: Er hielt den Kopf leicht geneigt und kaute. Auch er war blind und nach den Lumpen zu schließen, in die er gekleidet war, war er ein Bettler. Aber seine Wangen waren voll und gerötet, seine Lippen gesund und feucht. Er kaute langsam mit geschlossenen Lippen und der Ausdruck auf seinem Gesicht war heiter. Er kaute gründlich, als handelte er nach einer Vorschrift. Es bereitete ihm offensichtlich großen Genuß, und als ich ihn so betrachtete, fiel mir sein Speichel ein und daß er davon sehr viel haben müsse. Er stand vor einer Reihe von Buden, in denen Berge von Orangen zum Verkauf aufgehäuft waren; ich sagte mir, daß einer der Händler ihm eine Orange gegeben haben müsse und daß er an dieser kaue. Seine rechte Hand stand ein wenig vom Körper ab. Die Finger an ihr waren alle weit auseinandergespreizt. Es sah aus, als seien sie gelähmt und als könne er sie nicht einziehen.
    Es war ziemlich viel freier Raum um den alten Mann, was ich an dieser belebten Stelle erstaunlich fand. Er wirkte, als wäre er immer allein und als wünschte er sich nichts Besseres. Ich sah ihm entschlossen beim Kauen zu und wollte abwarten, was geschähe, wenn er damit fertig wäre. Es dauerte sehr lange, noch nie hatte ich einen Menschen so herzlich und ausführlich kauen sehen. Ich spürte, wie mein eigener Mund in leise Bewegung geriet, obwohl er nichts enthielt, was er hätte kauen können. Ich empfand etwas wie Ehrfurcht vor seinem Genuß, der mir auffallender schien als alles, was ich je an einem menschlichen Munde gesehen hatte. Seine Blindheit erfüllte mich nicht mit Mitleid. Er schien gesammelt und zufrieden. Nicht
einmal
unterbrach er sich, um zu fordern, wie es die anderen alle zu tun pflegten. Vielleicht hatte er, was er brauchte. Vielleicht brauchte er sonst nichts.
    Als er zu Ende war, leckte er sich die Lippen ein paarmal ab,
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