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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch
Autoren: Elias Canetti
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hatte.
    Ich ging und behielt ihn so sehr im Sinn, daß ich zu allen meinen Freunden von ihm sprach. Niemand hatte ihn je bemerkt und ich spürte, daß man an der Wahrheit meiner Worte zweifelte. Am nächsten Tag suchte ich dieselbe Stelle auf, aber er war nicht da. Ich suchte überall, er war nicht zu finden. Ich suchte jeden Tag, er kam nicht wieder. Vielleicht lebte er irgendwo allein in den Bergen und kam nur selten in die Stadt. Ich hätte die Orangenverkäufer nach ihm fragen können, aber ich schämte mich vor ihnen. Er bedeutete ihnen nicht dasselbe wie mir, und während ich gar keine Scheu empfand, zu Freunden von ihm zu sprechen, die ihn nie gesehen hatten, suchte ich ihn von denen, die ihn wohl kannten, denen er vertraut und natürlich war, getrennt zu halten. Er wußte nichts von mir und sie hätten vielleicht über mich zu ihm gesprochen.
    Ich sah ihn einmal wieder, genau eine Woche später, wieder an einem Samstagabend. Er stand vor derselben Bude, aber er hatte nichts im Munde und kaute nicht. Er sagte seinen Spruch. Ich gab ihm eine Münze und wartete ab, was damit geschah. Bald kaute er sie wieder fleißig, doch noch während er damit beschäftigt war, kam ein Mann auf mich zu und sagte seinen Unsinn: »Das ist ein Marabu. Er ist blind. Er steckt die Münze in den Mund, um zu spüren, wieviel Sie ihm gegeben haben.« Dann sprach er zum Marabu auf arabisch und zeigte auf mich. Der Alte hatte sein Kauen beendet und die Münze wieder ausgespuckt. Er wandte sich mir zu und sein Antlitz strahlte. Er sagte einen Segensspruch für mich her, den er sechsmal wiederholte. Die Freundlichkeit und Wärme, die während seiner Worte auf mich überging, war so, wie ich sie noch nie von einem Menschen empfangen habe.

 

STILLE IM HAUS UND LEERE DER DÄCHER
    Um in einer fremdartigen Stadt vertraut zu werden, braucht man einen abgeschlossenen Raum, auf den man ein gewisses Anrecht hat und in dem man allein sein kann, wenn die Verwirrung der neuen und unverständlichen Stimmen zu groß wird. Dieser Raum soll still sein, niemand soll einen sehen, wenn man sich in ihn rettet, niemand, wenn man ihn wieder verläßt. Am schönsten ist es, in eine Sackgasse zu verschwinden, vor einem Tore stehenzubleiben, zu dem man den Schlüssel in der Tasche hat, und aufzusperren, ohne daß es eine Sterbensseele hört.
    Man tritt in die Kühle des Hauses und macht das Tor hinter sich zu. Es ist dunkel und für einen Augenblick sieht man nichts. Man ist wie einer der Blinden auf den Plätzen und Gassen, die man verlassen hat. Aber man gewinnt das Augenlicht sehr bald wieder. Man sieht die steinernen Stufen, die in die Etage führen, und oben findet man eine Katze vor. Sie verkörpert die Lautlosigkeit, nach der man sich gesehnt hat. Man ist ihr dankbar dafür, daß sie lebt, so läßt es sich auch leise leben. Sie wird gefüttert, ohne daß sie tausendmal am Tage ›Allah‹ ruft. Sie ist nicht verstümmelt und sie hat es auch nicht nötig, sich in ein schreckliches Schicksal zu ergeben. Sie mag grausam sein, aber sie sagt es nicht.
    Man geht auf und ab und atmet die Stille ein. Wo ist das ungeheuerliche Treiben geblieben? Das grelle Licht und die grellen Laute? Die hundert und aberhundert Gesichter? In diesen Häusern gehen wenig Fenster auf die Gasse, manchmal keines; alles öffnet sich auf den Hof, und dieser öffnet sich auf den Himmel. Nur durch den Hof ist man in einer milden und gemäßigten Verbindung mit seiner Umwelt.
    Man kann aber auch auf das Dach steigen und alle flachen Dächer der Stadt auf einmal sehen. Es ist ein ebener Eindruck und alles wie in großzügigen Stufen gebaut. Man meint, man könnte oben über die ganze Stadt spazieren. Die Gassen erscheinen nicht als Hindernis, man sieht sie nicht, man vergißt, daß es Gassen gibt. Die Berge des Atlas glänzen nahe und man würde sie für die Kette der Alpen halten, wäre das Licht auf ihnen nicht gleißender und wären nicht so viele Palmen zwischen ihnen und der Stadt.
    Die Minaretts, die sich da und dort erheben, sind nicht wie Kirchtürme. Sie sind wohl schlank, aber nicht zugespitzt, ihre Breite ist oben dieselbe wie unten, und es kommt auf die Plattform in der Höhe an, von der zum Gebete gerufen wird. Sie sind eher wie Leuchttürme, aber von einer Stimme bewohnt.
    Über den Dächern der Häuser praktiziert eine Bevölkerung von Schwalben. Es ist wie eine zweite Stadt; nur geht es in ihr so rasch zu wie auf den Gassen der Menschen langsam. Nie ruhen sich diese
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