Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch
Autoren: Elias Canetti
Vom Netzwerk:
Plätschern. Ich ging zurück, stellte mich wieder in einiger Entfernung vom Hause hin und blickte auf, und da war das ovale Gesicht ganz nah am Gitter und die Lippen bewegten sich zu den zärtlichen Worten.
    Es schien mir, daß sie nun ein wenig anders klangen, ein Ungewisses Bitten war darin vernehmlich, als würde sie sagen: geh nicht weg. Vielleicht dachte sie, daß ich für immer gegangen war, als ich verschwand, um Haus und Tor zu prüfen. Nun war ich wieder da und sollte bleiben. Wie soll ich die Wirkung schildern, die ein unverschleiertes weibliches Gesicht, von der Höhe eines Fensters herabblickend, in dieser Stadt, in diesen Gassen auf einen hat. Wenig Fenster gehen auf die Gassen und nie sieht jemand zu ihnen heraus. Die Häuser sind wie Mauern, man hat oft lange das Gefühl, zwischen Mauern zu gehen, obschon man weiß, daß es Häuser sind: Man sieht die Türen und spärliche, unbenützte Fenster. Mit den Frauen ist es ähnlich, als unförmige Säcke bewegen sie sich auf den Gassen weiter, man erkennt, man ahnt nichts, man ist es bald überdrüssig, sich Mühe zu geben und sich zu einer Vorstellung von ihnen anzuhalten. Man verzichtet auf Frauen. Aber man verzichtet nicht gern, und eine, die dann an einem Fenster erscheint und gar zu einem spricht und den Kopf leicht neigt und nicht mehr weggeht, als hätte sie hier schon immer auf einen gewartet, und die dann weiterspricht, wenn man ihr den Rücken wendet und sacht weggeht, die sprechen wird, ob man da ist oder nicht, und immer zu einem, immer zu jedem sprechen wird, - eine solche Frau ist ein Wunder, eine Erscheinung, und man ist geneigt, sie für wichtiger zu halten, als alles, was es sonst in dieser Stadt zu sehen gäbe.
    Ich wäre viel länger hier gestanden, aber es war kein ganz unbelebtes Viertel. Verschleierte Frauen kamen mir entgegen und sie hielten sich über ihre Genossin am Gitter oben gar nicht auf. Sie gingen am turmartigen Hause vorbei, als ob niemand spräche. Sie blieben nicht stehen, sie blickten nicht hinauf. In unveränderlichem Schritt näherten sie sich dem Haus und bogen, genau unterm Fenster der Sprechenden, in die Gasse ein, wo ich stand. Wohl aber spürte ich, daß sie mir mißbilligende Blicke gaben. Was tat ich hier? Warum stand ich da? Warum starrte ich hinauf?
    Eine Gruppe von Schuljungen kam vorüber. Sie spielten und scherzten auf ihrem Wege und benahmen sich so, als hörten sie die Laute von oben nicht. Sie betrachteten mich: Ich war ihnen weniger vertraut als die unverschleierte Frau. Ich schämte mich etwas, weil ich dastand und starrte. Aber ich spürte, daß ich das Gesicht am Gitter durch mein Fortgehen enttäuschen würde; jene Worte flössen weiter wie ein Bach aus Vogellauten. Dazwischen aber tönten nun die schrillen Rufe der Kinder, die sich nur langsam entfernten. Sie hatten ihre Ränzel bei sich und kamen aus der Schule; sie suchten den Weg nach Hause zu verlängern und erfanden kleine Spiele, zu deren Regeln es gehörte, daß sie auf der Gasse bald nach vorn und bald nach rückwärts sprangen. So kamen sie nur im Schneckentempo vorwärts und machten mir das Lauschen zur Qual.
    Eine Frau mit einem ganz kleinen Kind an der Seite blieb neben mir stehen. Sie mußte sich mir von hinten genähert haben, ich hatte sie nicht bemerkt. Sie blieb kurz; sie gab mir einen bösen Blick; hinterm Schleier erkannte ich die Züge einer alten Frau. Sie packte das Kind, als ob meine Gegenwart es gefährde und schlapfte, ohne mir ein Wort zu gönnen, weiter. Ich fühlte mich unbehaglich, verließ meinen Standort und folgte ihr langsam. Sie ging ein paar Häuser die Gasse hinunter und bog dann zur Seite ein. Als ich die Ecke erreichte, um die sie verschwunden war, sah ich am Ende einer Sackgasse die Kuppel einer kleinen Kubba. So heißen die Heiligengräber in diesem Land, zu denen die Menschen mit ihren Wünschen pilgern. Die alte Frau stand vor dem verschlossenen Tor der Kubba und hob das winzige Kind in die Höhe. Sie preßte seinen Mund gegen einen Gegenstand, den ich von mir aus nicht erkennen konnte. Sie wiederholte diese Bewegung einigemal, dann stellte sie das Kind auf den Boden, nahm seine Händchen und wandte sich zum Gehen. Als sie die Ecke der Sackgasse erreicht hatte, mußte sie wieder an mir vorbei, aber diesmal gab sie mir nicht einmal einen bösen Blick und ging in die Richtung zurück, aus der wir beide gekommen waren.
    Ich näherte mich der Kubba und sah in halber Höhe des hölzernen Tores einen Ring, um den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher