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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch
Autoren: Elias Canetti
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jeden Abend da, und jeden Abend stand mein Herz still, wenn ich den Laut zuerst ausnahm, und es stand dann wieder still, wenn ich es gewahrte. Sein Weg hin und zurück war mir noch heiliger als mein eigener. Ich spürte ihm nie nach und ich weiß nicht, wo es für den Rest der Nacht und des kommenden Tages verschwand. Es war etwas Besonderes, und vielleicht hielt es sich dafür. Ich fühlte mich manchmal versucht, mit einem Finger ganz sacht an die braune Kapuze zu rühren - das mußte es bemerken, und vielleicht besaß es einen zweiten Laut, mit dem es darauf erwidert hätte. Aber diese Versuchung ging immer in meiner Ohnmacht rasch unter.
    Ich sagte, daß mich beim Davonschleichen noch ein anderes Gefühl würgte: Stolz. Ich war stolz auf das Bündel, weil es lebte. Was es sich dachte, während es hier tief unter den anderen Menschen atmete, werde ich nie wissen. Der Sinn seines Rufes blieb mir so dunkel wie sein ganzes Dasein: Aber es lebte und war täglich zu seiner Zeit wieder da. Ich sah nie, daß es Münzen aufhob, die man ihm hinwarf; man warf ihm wenig hin, nie lagen mehr als zwei oder drei Münzen da. Vielleicht besaß es keine Arme, um nach den Münzen zu greifen. Vielleicht besaß es keine Zunge, um das »l« in »Allah« zu formen, und der Name Gottes verkürzte sich ihm zu »ä-ä-ä-ä-ä-«. Aber es lebte, und mit einem Fleiß und einer Beharrlichkeit ohnegleichen sagte es seinen einzigen Laut, sagte ihn Stunden und Stunden, bis es auf dem ganzen weiten Platz der einzige Laut geworden war, der Laut, der alle anderen Laute überlebte.
     
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