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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch
Autoren: Elias Canetti
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man schlechter behandelte als einen Esel in Marrakesch, dieses Wesen, weniger als nichts, ohne Fleisch, ohne Kraft, ohne rechtes Fell, hatte noch so viel Lust in sich, daß mich der bloße Anblick vom Eindruck seines Elends befreite. Ich denke oft an ihn. Ich sage mir, wie viel von ihm noch da war, als ich nichts mehr sah. Ich wünsche jedem Gepeinigten seine Lust im Elend.

 

›SCHEHEREZADE‹
    Sie war die Inhaberin einer kleinen französischen Bar, die ›Scheherezade‹ hieß, das einzige Lokal in der Medina, das während der ganzen Nacht offen war. Es war manchmal ganz leer, manchmal saßen drei oder vier Leute darin. Wenn es aber voll war, am häufigsten zwischen zwei und drei Uhr nachts, hörte man jedes Wort, das die anderen Gäste sagten, und kam mit jedem ins Gespräch. Denn der Raum war winzig und sobald zwanzig Menschen drin saßen oder standen, sah es aus, als müßte das Ganze bald platzen.
    Gleich um die Ecke war der leere Platz, die Djema el Fna, keine zehn Schritte von der Bar entfernt. Einen größeren Gegensatz kann man sich nicht denken. Um den Platz herum lagen armselige Menschen in Lumpen am Boden und schliefen. Sie waren oft dem Gelände so angepaßt, daß man darauf achtgeben mußte, nicht an sie zu stoßen. Wer immer um diese Zeit am Platz auf Beinen stand und ging, war verdächtig und es war besser, sich vor ihm in acht zu nehmen. Das eigentliche Leben der Djema war längst zu Ende, wenn das der kleinen Bar begann. Wer hier verkehrte, sah europäisch aus. Es kamen Franzosen, Amerikaner, Engländer. Es kamen auch Araber; aber sie waren entweder europäisch gekleidet oder sie tranken, und das allein machte sie schon, zumindest in ihren Augen, zu modernen Menschen oder Europäern. Die Getränke waren sehr teuer und nur wohlhabende Araber wagten sich hinein. Die Menschen in Lumpen, die auf dem Platze lagen, hatten nichts oder zwei Franken in der Tasche. Die Gäste der ›Scheherezade‹ zahlten hundertzwanzig Franken für ein Gläschen Cognac und sie tranken mehrere rasch hintereinander. Auf dem Platze, bevor er einschlief, war man arabische Musik gewöhnt, die Radios jammerten laut aus jedem Lokal, das ein Dach sein Eigen nannte. In der Bar gab es nichts als europäische Tanzmusik, aber gedämpft, und jeder, der da eintrat, kam sich fein vor. Madame Mignon sorgte für die neuesten Schlager. Sie war stolz auf ihre Platten und etwa jede Woche einmal kam sie mit einem neuen Stoß Platten ins Lokal, die sie eben eingekauft hatte. Sie führte sie ihren Stammgästen vor und war am individuellen Geschmack ihrer Kunden lebhaft interessiert.
    Sie war in Shanghai geboren, von einem französischen Vater und einer chinesischen Mutter. Ihre Augen waren geschlitzt gewesen, aber sie hatte sie durch eine Operation regulieren lassen und so war nur noch wenig von ihrem chinesischen Charakter übrig geblieben. Sie verheimlichte ihre chinesische Mutter nie. Sie hatte in anderen französischen Kolonien gelebt, bevor sie nach Marokko kam, einige Jahre war sie in Duala gewesen. Sie hatte gegen alle Nationen etwas einzuwenden, so naive und unerschütterliche Vorurteile wie bei dieser Frau habe ich noch nie erlebt. Aber auf Franzosen und Chinesen ließ sie nichts kommen, und sie fügte immer stolz hinzu: »Meine Mutter war eine Chinesin. Mein Vater war ein Franzose.« So zufrieden war sie mit sich und so viel hatte sie gegen ihre Kunden einzuwenden, falls sie anderen Ursprungs waren. Ich erwarb ihr Vertrauen durch ein langes Gespräch, als ich einmal im Lokal mit ihr allein war. Wenn meine Freunde von der englischen Filmtruppe vergessen hatten, vorm Weggehen ihre Runden für die anderen zu bezahlen, sprang ich manchmal ein. So hielt sie mich für reich; auf eine heimliche Weise reich, wie es bei Engländern üblich sei, denen man es selten an den Kleidern ansehe. Irgend jemand, vielleicht um Madame Mignon zum Narren zu halten, hatte mich für einen Psychiater ausgegeben. Da ich oft ruhig dort saß, ohne ein Wort zu sagen, und später, allein mit ihr, sie eingehend über die Gäste befragte, beschloß sie, diesem Gerücht Glauben zu schenken. Ich widersprach nicht, es paßte mir, sie erzählte mir so mehr.
    Sie war mit Monsieur Mignon verheiratet, einem großen, starken Kerl, der in der Fremdenlegion gedient hatte und ihr nur wenig in ihrer Bar half. Wenn keine Gäste da waren, schlief er gerne, auf den Bänken des winzigen Raumes ausgestreckt. Sobald aber Gäste kamen, die er kannte, nahm er sie ins französische
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