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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch
Autoren: Elias Canetti
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Boden, vor sich einen Korb mit ganz kleinen Eiern. Weit und breit um ihn war nichts. Acetylenlampen brannten hie und da, der Platz roch danach. In den Buden der Garköche saßen noch vereinzelt Männer und löffelten ihre Suppen. Sie wirkten einsam, als hätten sie nirgends hinzugehen. An den Rändern des Platzes legten sich Menschen zum Schlaf nieder. Manche lagen, die meisten kauerten, alle hatten die Kapuzen ihres Mantels über den Kopf gezogen. Sie schliefen reglos, nie hätte man vermutet, daß unter den dunklen Kapuzenmänteln etwas atme.
    Eines Nachts sah ich mitten auf dem Platze einen großen, dichten Ring von Menschen, von Acetylenlampen auf das Sonderbarste erleuchtet. Alle standen. Die dunklen Schatten auf Gesichtern und Gestalten, dicht neben dem scharfen Licht, das die Lampen auf sie warfen, gaben ihnen etwas Grausames und Unheimliches. Ich hörte die Laute zweier einheimischer Instrumente, und dazu die Stimme eines Mannes, der heftig auf jemand einsprach. Als ich näher trat und eine Lücke fand, durch die ich in den Ring hineinsehen konnte, bemerkte ich in der Mitte einen stehenden Mann mit einem Stock in der Hand, der dringliche Fragen an einen Esel stellte.
    Der Esel war von allen armseligen Eseln dieser Stadt der ärmste. Die Knochen standen ihm heraus, er war ganz verhungert, sein Fell war abgeschabt, er war sicher nicht mehr fähig, die kleinste Last zu tragen. Man fragte sich, wie er sich noch auf den Beinen aufrecht hielt. Der Mann führte einen komischen Dialog mit ihm. Er suchte ihn zu etwas zu überreden. Als der Esel störrisch blieb, stellte er ihm Fragen; und da er nicht antworten wollte, lachten die erleuchteten Männer laut. Vielleicht war es eine Geschichte, in der ein Esel eine Rolle spielte. Denn nach einem langen Palaver begann das traurige Tier sich ganz langsam nach der Musik zu drehen. Der Stock blieb immer über ihm geschwungen. Der Mann redete rascher und lauter, er tobte förmlich, um den Esel in Gang zu halten, aber seine Worte klangen mir so, als ob er auch selber eine komische Figur verkörpere. Die Musik ging weiter und weiter, die Männer kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus und sahen wie Menschenoder Eselsfresser drein.
    Ich blieb nur kurz und so kann ich nicht sagen, was weiter geschah. Mein Abscheu überwog meine Neugier. Längst hatte ich die Esel dieser Stadt ins Herz geschlossen. Auf Schritt und Tritt hatte ich Gelegenheit, über ihre Behandlung Empörung zu empfinden, und war doch ganz hilflos. Aber eine solche Jammerfigur eines Geschöpfs hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen, und auf meinem Weg nach Hause suchte ich mich damit zu beruhigen, daß es diese Nacht bestimmt nicht überleben werde.
    Der nächste Tag war ein Samstag und ich ging schon früh auf die Djema. Es war einer ihrer belebtesten Tage. Zuschauer, Darsteller, Körbe und Buden drängten sich, es war schwer, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Ich kam an die Stelle, wo nachts zuvor der Esel gestanden war. Ich blickte hin und traute meinen Augen nicht: da stand er wieder. Er stand ganz allein. Ich betrachtete ihn genau, es war nicht zu verkennen, er war es. Sein Herr in seiner Nähe unterhielt sich friedlich mit ein paar Leuten. Es hatte sich noch kein Kreis um sie gebildet. Die Musiker waren nicht da, die Vorstellung hatte noch nicht begonnen. Der Esel stand genau so da wie in der Nacht zuvor. Sein Fell sah bei strahlendem Sonnenlicht noch abgeschabter aus als bei Nacht. Er kam mir elender, ausgehungerter und älter vor.
    Plötzlich spürte ich einen Menschen im Rücken und vernahm heftige Worte im Ohr, die ich nicht verstand. Ich drehte mich um und verlor den Esel für einen Augenblick aus dem Auge. Der Mann, den ich gehört hatte, drängte sich in der Menge dicht an mich, aber es zeigte sich, daß er jemand anderen und nicht mich bedroht hatte. Ich wandte mich wieder dem Esel zu. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, aber es war nicht mehr derselbe Esel. Denn zwischen seinen Hinterbeinen, schräg nach vor, hing ihm plötzlich ein ungeheures Glied herunter. Es war stärker als der Stock, mit dem man ihn nachts zuvor bedroht hatte. In der winzigen Zeitspanne, in der ich mich umgedreht hatte, war eine überwältigende Veränderung bei ihm vorgegangen. Ich weiß nicht, was er gesehen, gehört oder gerochen hatte. Ich weiß nicht, was ihm in den Sinn gekommen war. Aber dieses armselige, alte, schwache Geschöpf, das am Umfallen war und nur noch für störrische Dialoge zu verwenden, das
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