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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch
Autoren: Elias Canetti
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bekommen.
    Ginette war nicht allein, als sie mir zuerst auffiel. Sie saß neben einem sehr jungen Mann von mädchenhaftem Aussehen, der noch mehr herausgeputzt war als sie; seine großen dunklen Augen und die braune Gesichtsfarbe verrieten den Marokkaner. Sie stand auf sehr vertrautem Fuße mit ihm und oft kamen sie zusammen ins Lokal. Ich hielt sie für ein Liebespaar und pflegte sie zu betrachten, bevor ich etwas über sie erfahren hatte. Er sah immer so aus, als käme er stracks aus dem Kasino. Er war nicht nur in seiner Kleidung französischen Gepflogenheiten ganz angepaßt: er ließ sich öffentlich von Ginette liebkosen, was für einen Araber als größte Schande gilt. Sie tranken viel. Manchmal hatten sie einen Dritten bei sich, einen Menschen von vielleicht dreißig Jahren, der etwas männlicher wirkte und nicht ganz so geschniegelt war.
    Als Ginette zum ersten Mal das Wort an mich richtete - ziemlich scheu, weil sie mich für einen Engländer hielt -, saß sie vor der Bar; ich saß rechts von ihr und ihr junger Mann war auf der anderen Seite. Sie fragte nach dem Fortgang des Films, den meine Freunde in Marrakesch drehten. Er war für sie kein kleines Ereignis, und sie wäre, wie ich bald merkte, für ihr Leben gern in den Film hineingekommen. Ich erwiderte höflich auf ihre Fragen. Madame Mignon freute sich, daß wir endlich zusammengekommen waren, ihre beste Freundin und ich. Wir unterhielten uns eine Weile, dann stellte sie mir den jungen Mann zu ihrer Linken vor, sie war mit ihm verheiratet. Ich wunderte mich darüber, alles andere hätte ich eher gedacht. Sie lebten schon seit einem Jahr zusammen. Zu zweit gaben sie einem den Eindruck, als wären sie noch auf ihrer Hochzeitsreise. Aber wenn Ginette ohne ihn da saß, blickte sie immer sehnsüchtig nach der Tür, und es war dann keineswegs ihr Mann, den sie sich herbeiwünschte. Ich fragte sie unter taktvollen Scherzen nach ihrer Lebensweise aus und erfuhr, daß sie um drei Uhr nachts aus der Bar nach Hause gingen, ihr Nachtmahl einzunehmen. Gegen fünf Uhr früh legten sie sich schlafen und schliefen bis in den Nachmittag hinein.
    Was ihr Mann arbeite? fragte ich. »Nichts«, sagte sie, »er hat seinen Vater.« Madame Mignon, die zuhörte, lächelte boshaft bei dieser Auskunft. Der braune, mädchenhafte junge Mann lächelte schüchtern, aber doch so, daß er viel von seinen schönen Zähnen zeigte. Seine Eitelkeit überstrahlte alles, selbst die peinlichste Verlegenheit. Wir luden einander zum Trinken ein und kamen ins Gespräch. Ich merkte, daß er so verwöhnt war, wie er aussah. Ich fragte ihn, wie lange er in Frankreich gelebt hatte. Er wirkte so durchaus französisch. »Nie«, sagte er. »Ich bin nie aus Marokko hinausgekommen.« Ob er gern nach Paris möchte? - Nein, dazu habe er keine Lust. Ob er nach England möchte? - Nein, eigentlich nicht. - Ob er überhaupt wohin möchte? - Nein. - Er antwortete auf alles schwach, als habe er keinen rechten Willen. Ich spürte, daß es da noch etwas geben müsse, wovon er nicht sprach, etwas, was ihn an diesen Ort binde. Ginette konnte es nicht sein, denn sie gab deutlich zu verstehen, daß sie überall lieber wäre als hier.
    Das Paar, das so glatt und gewöhnlich schien, blieb mir rätselhaft. Ich sah sie jede Nacht in der kleinen Bar. Außer für die Fremden, die das Lokal betraten, interessierten sie sich für eines: die Grammophonplatten der Madame Mignon. Sie äußerten Wünsche nach bestimmten Liedern; manche fanden sie so schön, daß sie sechsmal hintereinander gespielt wurden. Dann ging es ihnen in die Beine und sie begannen in dem winzigen Raum zwischen Bar und Tür zu tanzen. Sie legten ihre Gliedmaßen so dicht übereinander, daß es ein wenig peinlich war, ihnen zuzusehen. Ginette hatte Freude an dieser intimsten Art des Tanzens, aber der Zuschauer wegen beschwerte sie sich über ihren Mann: »Es ist schrecklich mit ihm. Er will nicht anders tanzen. Ich hab's ihm so oft gesagt. Er sagt, er kann nicht anders.« Dann begann der nächste Tanz, und wenn sie einmal soweit waren, achtete sie genau darauf, keine einzige Drehung der Grammophonplatte zu versäumen. Ich stellte mir Ginette in einem anderen Lande vor, da wo es sie hinzog, und wie sie dort genau dasselbe Leben führen würde, mit denselben Menschen, zu derselben Zeit, und ich sah sie in London zu denselben Platten tanzen.
    Eines Nachts, als ich allein in der Bar war, fragte mich Madame Mignon, wie mir Ginette gefalle. Ich wußte, was sich
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