Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch
Autoren: Elias Canetti
Vom Netzwerk:
gehört und sagte: »Sie hat ein angenehmes Naturell.«
    »Sie ist nicht mehr zu erkennen!« sagte Madame Mignon. »Wenn Sie wüßten, wie sie sich in diesem Jahr verändert hat! Sie ist unglücklich, die Arme! Sie hätte ihn nicht heiraten sollen. Diese Eingeborenen sind alle schlechte Ehemänner. Sein Vater ist reich, er ist aus guter Familie, das ist wahr, aber er hat ihn enterbt, weil er Ginette geheiratet hat. Und ihr Vater will nichts von ihr wissen, weil sie einen Araber geheiratet hat. Jetzt haben sie beide nichts.«
    »Ja wie leben sie denn, wenn er nicht arbeitet und sein Vater ihm nichts gibt?«
    »Das wissen Sie nicht? Sie wissen nicht, wer sein Freund ist?«
    »Nein, wie soll ich das wissen?«
    »Sie haben ihn doch hier mit ihnen sitzen sehen. Sein Freund ist ein Sohn des Glaoui. Er ist sein Günstling.
    Das dauert schon lang. Der Glaoui ist jetzt böse mit seinem Sohn. Er hat nichts gegen Frauen. Er will, daß seine Söhne Frauen haben, soviel sie wollen. Aber das mit Männern mag er nicht. Vor ein paar Tagen hat er seinen Sohn weggeschickt.«
    »Und davon hat der Mann der Ginette gelebt?«
    »Ja. Und von ihr auch. Er zwingt sie, mit reichen Arabern zu schlafen. Da ist besonders einer, am Hof des Sohnes des Glaoui, der die Ginette mag. Er ist nicht mehr jung, aber er ist reich. Sie hat ihn erst nicht wollen, aber ihr Mann hat sie gezwungen. Jetzt hat sie sich an ihn gewöhnt. Jetzt schlafen sie oft zu dritt. Ihr Mann schlägt sie, wenn sie nicht will. Aber das ist jetzt nur bei ändern, er ist sehr eifersüchtig. Er läßt sie nur mit Männern schlafen, die dafür zahlen. Er macht ihr Eifersuchtsszenen, wenn ihr einer gefällt. Er schlägt sie, wenn ihr einer nicht gefällt und sie ihn auch für Geld nicht mag und er schlägt sie, wenn ihr einer so gefällt, daß sie ohne Geld mit ihm schlafen möchte. Drum ist sie doch so unglücklich. Das arme Mädchen, sie kann nie machen, was sie will. Sie wartet auf einen Mann, der sie wegholt von hier. Ich möchte es ihr wünschen, daß sie wegkommt, sie tut mir leid. Dabei ist sie meine einzige Freundin hier. Wenn sie weggeht, habe ich niemanden.«
    »Sie sagen, der Glaoui ist böse mit seinem Sohn?« »Ja, er hat ihn auf einige Zeit weggeschickt. Er hofft, er wird seinen Liebling vergessen. Aber er wird ihn nicht vergessen, die sind so aufeinander eingestellt.«
    »Und der Freund der Ginette?«
    »Der ist auch fort. Der mußte mit. Der gehört doch zum Hof des Sohnes des Glaoui.«
    »Die sind jetzt beide weg?«
    »Ja. Es ist ein schwerer Schlag für sie. Jetzt haben sie kein Geld. Sie müssen von Schulden leben. Aber das wird nicht lange dauern. Der Glaoui hat es schon ein paarmal versucht, die beiden zu trennen. Der Sohn kommt immer zurück. Er hält es nicht aus, auf die Dauer hält er es ohne den Mann der Ginette nicht aus. Nach einigen Wochen ist er wieder da, und sein Vater gibt nach.«
    »Da wird alles wieder gut werden.«
    »Ach ja, das wird schon wieder werden, das ist nichts Ernstes. Er ist ein bißchen gereizt mit ihr deswegen, das ist alles. Er versucht, jemand für die Zwischenzeit zu finden. Drum hat er mit Ihnen gesprochen. Man sagt, daß Sie sehr reich sind. Er hat erst an sich gedacht, aber ich habe ihm gesagt, das ist nichts. Sie sind mir viel zu gut für ihn. Gefällt Ihnen die Ginette?«
    Erst jetzt begann ich zu begreifen, daß mein vermeintlicher Reichtum mir einen bösen Streich gespielt hatte. Aber in einem Punkte tat ich Madame Mignon unrecht.
    »Man müßte sie von hier wegnehmen«, sagte sie. »Geben Sie ihm kein Geld für die Ginette. Es geht, wie es kommt, und dem armen Mädchen ist nicht geholfen. Sie wird sich nie was mit ihm ersparen. Er nimmt ihr alles weg. Fahren sie einfach weg mit ihr. Sie hat mir gesagt, daß sie mitkommt, wenn sie wollen. Er kann nicht weg. Schließlich gehört er zum Hofstaat des Sohnes des Glaoui und da kann er nicht so einfach weg. Er würde gar keinen Paß bekommen. Das Mädchen tut mir so leid. Sie sieht von Tag zu Tag schlechter aus. Sie hätten sie vor einem Jahr sehen sollen, wie frisch sie war, wie eine Knospe. Sie braucht gute Behandlung und ein vernünftiges Leben. Sie ist eben doch eine Engländerin. Natürlich, wie der Vater. Dabei ist sie so lieb. Man möchte es gar nicht glauben. Hätten Sie sie für eine Engländerin gehalten?«
    »Nein«, sagte ich. »Oder vielleicht doch. Vielleicht hätte ich sie an ihrer Feinheit als Engländerin erkannt.« »Nicht wahr«, sagte Madame Mignon. »Sie hat
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher