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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch
Autoren: Elias Canetti
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Verborgenes hat, die das Innere ihrer Häuser, Gestalt und Gesicht ihrer Frauen und selbst ihre Gotteshäuser vor Fremden eifersüchtig verbirgt, ist diese gesteigerte Offenheit dessen, was erzeugt und verkauft wird, doppelt anziehend.
    Eigentlich wollte ich den Handel kennenlernen, aber über den Gegenständen, die verhandelt wurden, verlor ich ihn, wenn ich die Suks betrat, immer erst aus den Augen. Naiv besehen erscheint es unverständlich, warum man sich einem bestimmten Kaufmann in Maroquinleder zuwendet, wenn es daneben zwanzig andere gibt, deren Waren sich kaum von den seinen unterscheiden. Man kann von einem zum anderen gehen und wieder zum ersten zurück. Der Laden, in dem man kaufen wird, ist nie von vornherein sicher. Selbst wenn man sich diesen oder jenen unter ihnen vorgenommen hätte, man hat jede Gelegenheit, sich eines anderen zu besinnen.
    Der Passant, der außen vorübergeht, ist durch nichts, weder Türen noch Scheiben von den Waren getrennt. Der Händler, der mitten unter ihnen sitzt, trägt keinen Namen zur Schau und es ist ihm, wie ich schon sagte, ein Leichtes, überall hinzulangen. Dem Passanten wird jeder Gegenstand bereitwillig gereicht. Er kann ihn lang in der Hand halten, er kann lang darüber sprechen, er kann Fragen stellen, Zweifel äußern, und wenn er Lust hat, seine Geschichte, die Geschichte seines Stammes, die Geschichte der ganzen Welt vorbringen, ohne etwas zu kaufen. Der Mann unter seinen Waren ist vor allem eines: Er ist ruhig. Er sitzt immer da. Er sieht immer nah aus. Er hat wenig Platz und Gelegenheit zu ausführlichen Bewegungen. Er gehört seinen Waren so sehr wie sie ihm. Sie sind nicht weggepackt, er hat immer seine Hände oder seine Augen auf ihnen. Eine Intimität, die verführerisch ist, besteht zwischen ihm und seinen Gegenständen. Als wären sie seine sehr zahlreiche Familie, so bewacht er sie und hält sie in Ordnung.
    Es stört und beengt ihn nicht, daß er ihren Wert genau kennt. Denn er hält ihn geheim und man wird ihn nie erfahren. Das gibt der Prozedur des Handelns etwas Feurig-Mysteriöses. Nur er kann wissen, wie nah man seinem Geheimnis kommt und er versteht sich darauf, mit Elan alle Stöße zu parieren, so daß die schützende Distanz zum Wert nie gefährdet wird. Für den Käufer gilt es als ehrenvoll, sich nicht betrügen zu lassen, aber ein leichtes Unternehmen ist das nicht, da er immer im dunklen tappt. In Ländern der Preismoral, dort wo die festen Preise herrschen, ist es überhaupt keine Kunst, etwas einzukaufen. Jeder Dummkopf geht und findet, was er braucht, jeder Dummkopf, der Zahlen lesen kann, bringt es fertig, nicht angeschwindelt zu werden.
    In den Suks hingegen ist der Preis, der zuerst genannt wird, ein unbegreifliches Rätsel. Niemand weiß ihn vorher, auch der Kaufmann nicht, denn es gibt auf alle Fälle viele Preise. Jeder von ihnen bezieht sich auf eine andere Situation, einen anderen Käufer, eine andere Tageszeit, einen anderen Tag der Woche. Es gibt Preise für einzelne Gegenstände und solche für zwei oder mehrere zusammen. Es gibt Preise für Fremde, die nur einen Tag in der Stadt sind, und solche für Fremde, die hier schon drei Wochen leben. Es gibt Preise für Arme und Preise für Reiche, wobei die für die Armen natürlich die höchsten sind. Man möchte meinen, daß es mehr verschiedene Arten von Preisen gibt als verschiedene Menschen auf der Welt.
    Aber das ist erst der Anfang einer komplizierten Affäre, über deren Ausgang nichts bekannt ist. Es wird behauptet, daß man ungefähr auf ein Drittel des ursprünglichen Preises herunterkommen soll, doch das ist nichts als eine rohe Schätzung und eine jener schalen Allgemeinheiten, mit denen Leute abgefertigt werden, die nicht willens oder außerstande sind, auf die Feinheiten dieser uralten Prozedur einzugehen.
    Es ist erwünscht, daß das Hin und Her der Unterhandlungen eine kleine, gehaltreiche Ewigkeit dauert. Den Händler freut die Zeit, die man sich zum Kaufe nimmt.
    Argumente, die auf Nachgiebigkeit des anderen zielen, seien weit hergeholt, verwickelt, nachdrücklich und erregend. Man kann würdevoll oder beredt sein, am besten ist man beides. Durch Würde zeigt man auf beiden Seiten, daß einem nicht zu sehr an Kauf oder Verkauf gelegen ist. Durch Beredsamkeit erweicht man die Entschlossenheit des Gegners. Es gibt Argumente, die bloß Hohn erwecken, aber andere treffen ins Herz. Man muß alles ausprobieren, bevor man nachgibt. Aber selbst wenn der Augenblick
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