Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch
Autoren: Elias Canetti
Vom Netzwerk:
manchen unter den Tieren nicht trauten; sie gingen an diese nicht zu nahe heran oder nur, wenn es wirklich notwendig war.
    Es dauerte nicht lange und wir wurden auf ein Kamel aufmerksam, das sich gegen etwas zu wehren schien, es knurrte und brummte und drehte den Kopf heftig nach allen Seiten. Ein Mann versuchte, es auf die Knie zu zwingen, da es nicht gehorchte, half er mit Stockhieben nach. Unter den zwei oder drei anderen Leuten, die zu Häupten des Tieres standen und sich an ihm zu schaffen machten, fiel einer besonders auf: Es war ein starker, gedrungener Mensch mit dunklem, grausamem Gesicht. Er stand fest da, seine Beine waren wie in den Boden verwurzelt. Mit energischen Bewegungen der Arme zog er einen Strick durch die Nasenwand des Tieres, die er durchbohrt hatte. Nase und Strick färbten sich rot von Blut. Das Kamel zuckte und schrie, bald brüllte es laut; schließlich sprang es, nachdem es niedergekniet war, nochmals auf und versuchte sich loszureißen, während der Mann den Strick immer fester zog. Die Leute gaben sich alle erdenkliche Mühe, es zu bändigen, und sie waren noch damit beschäftigt, als jemand an uns herantrat und in gebrochenem Französisch sagte:
    »Es riecht. Es riecht den Schlächter. Es ist zum Schlachten verkauft worden. Es kommt jetzt ins Schlachthaus.«
    »Aber wie kann es das riechen?« fragte mein Freund ungläubig.
    »Das ist der Schlächter, der dort vor ihm steht«, und er zeigte auf den festen, dunklen Mann, der uns aufgefallen war. »Der Schlächter kommt aus dem Schlachthaus und riecht nach Kamelblut. Das hat das Kamel nicht gern. Ein Kamel kann sehr gefährlich sein. Wenn es die Tollwut hat, kommt es bei Nacht und tötet die Leute im Schlaf.«
    »Wie kann es die Leute töten?« fragte ich.
    »Wenn die Leute schlafen, kommt das Kamel, kniet sich auf sie und erstickt sie im Schlaf. Man muß sehr achtgeben. Bevor die Leute aufwachen, sind sie erstickt. Ja, das Kamel hat eine sehr gute Nase. Wenn es nachts neben seinem Herrn liegt, wittert es Diebe und weckt den Herrn. Das Fleisch ist gut. Man soll das Fleisch essen. Ça donne du courage. Das Kamel ist nicht gern allein. Allein geht es nirgends hin. Wenn ein Mann sein Kamel in die Stadt treiben will, muß er ein anderes finden, das mitgeht. Er muß sich eins ausleihen, sonst bringt er sein Kamel nicht in die Stadt. Es will nicht allein sein. Ich war im Krieg. Ich habe eine Verletzung, sehen Sie, hier«, er zeigte auf seine Brust.
    Das Kamel hatte sich ein wenig beruhigt und ich wandte zum erstenmal den Blick auf den Sprecher selbst. Die Brust schien eingedrückt und der linke Arm war steif. Der Mann kam mir bekannt vor. Er war klein, mager und sehr ernst. Ich fragte mich, wo ich ihn schon gesehen hatte.
    »Wie tötet man Kamele?«
    »Man schneidet ihnen die Halsschlagader durch. Sie müssen verbluten. Sonst darf man sie nicht essen. Ein Muselman darf sie nicht essen, wenn sie nicht verblutet sind. Ich kann nicht arbeiten, wegen dieser Verletzung. Darum mache ich hier ein wenig den Führer. Ich habe letzten Donnerstag mit Ihnen gesprochen, erinnern Sie sich an das tollwütige Kamel? Ich war in Safi, als die Amerikaner gelandet sind. Wir haben ein wenig gegen die Amerikaner gekämpft, aber nicht viel, dann bin ich in die amerikanische Armee aufgenommen worden. Da waren viele Marokkaner. Ich war in Korsika und in Italien mit den Amerikanern. Ich war überall. Der Deutsche ist ein guter Soldat. Am schlimmsten war das Casino. Da war es wirklich schlimm. Da hab ich meine Verletzung abbekommen. Kennen Sie das Casino?« Ich begriff allmählich, daß er Monte Casino meinte. Er gab mir eine Schilderung der erbitterten Kämpfe dort, und wurde, er, der sonst ruhig und gelassen war, so lebhaft dabei, als ginge es um die mörderischen Gelüste toller Kamele. Er war ein redlicher Mann, er glaubte, was er sagte. Aber er hatte einer Gruppe von Amerikanern mitten unter den Tieren erblickt und wandte sich sehr rasch diesen zu. Er verschwand so geschwind, wie er aufgetaucht war, und mir war es recht; denn ich hatte das Kamel, das nun nicht mehr brüllte, aus Auge und Ohr verloren und wollte es noch einmal sehen. Ich fand es bald. Der Schlächter hatte es stehen gelassen. Es kniete wieder. Es zuckte noch manchmal mit dem Kopf. Das Blut aus den Nüstern hatte sich weiter ausgebreitet. Ich fühlte etwas wie Dankbarkeit für die wenigen trügerischen Augenblicke, in denen man es allein ließ. Aber ich konnte nicht lange hinsehen, weil ich sein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher