Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses
Autoren: Jaume Cabré
Vom Netzwerk:
in die sie nicht direkt hineinblicken sollten, während sie auf den Sessellift warteten. Die neu eröffneten Anlagen waren wie geschaffen für die distinguierte Klientel, die bald in Massen über die frisch asphaltierte Zufahrtsstraße herbeiströmen würde. Und all das, beendete der Reporter seinen Bericht mit näselnder Stimme, war der Entschlußkraft einiger einheimischer Unternehmer und der entschiedenen Unterstützung durch die örtlichen Behörden zu verdanken, die ausdiesem idyllischen Fleckchen Erde einen Anziehungspunkt für die vornehmsten Freunde des aufkommenden Wintersports machen wollten. Der Sprecher verschwieg, daß die Bezeichnung »einheimische Unternehmer« ein Euphemismus war, weil siebzig Prozent des Kapitals aus Schweden kamen, obwohl die Schweden die Diktatur verabscheuten. Die anderen dreißig Prozent stammten von Senyora Elisenda Vilabrú, verwitwete Vilabrú, der letzten Hinterbliebenen der Vilabrús von Casa Gravat, Universalerbin des dreihundert Jahre alten Familienbesitzes sowie Erbin des nicht unbeträchtlichen persönlichen Vermögens des seligen Santiago Vilabrú. Bei den einheimischen Unternehmern handelte es sich allein um sie, denn alle anderen potentiellen Investoren hatten die Nase gerümpft und gesagt, die Piste von La Molina sei schon mehr als genug und Tuca Negra habe keinerlei Zukunft. Die darauffolgende Reportage zeigte Franco bei der Einweihung des dritten Stausees im Jahr 1957, dem neunzehnten Jahr nach dem Sieg.
    Der Gouverneur trank Kaffee mit einem Schuß Cognac und hatte sich eine mächtige Zigarre angesteckt. Er lächelt unter seinem Schnurrbart und tat so, als sähe er durch das Fenster hinaus in den Schnee, während er in Wirklichkeit mit quälerischer Lust die sich in den Scheiben spiegelnde Silhouette der Witwe musterte. Die Witwe Vilabrú, der dieser begehrliche Blick keineswegs entging und die sah, wie er sich nervös den Schweiß von Stirn und Händen wischte, blieb völlig ungerührt. Wortlos bedeutete sie dem Dienstmädchen, dem Gouverneur und allen anderen, die eine Militär- oder Falangeuniform trugen, immer reichlich Cognac nachzuschenken. Ein schmaler, schüchtern wirkender Mann hob sein Weinglas wie zu einem Toast. Seit mehr als zwei Jahren beriet Rechtsanwalt Gasull Senyora Elisenda nicht nur in rechtlichen Fragen, sondern dachte auch sonst Tag und Nacht nur an sie, an ihre Augen, ihr Konto, ihre riskanten geschäftlichen und politischen Schachzüge, ihre Haut und ihre schneidende Gleichgültigkeit ihm gegenüber. Gasull wollte ihr über die Entfernung hinweg lächelnd zuprosten, aber Senyora Elisenda nahm die Geste ihres Rechtsanwalts gar nicht zur Kenntnis; soeben hatte Quique, der Skilehrer von Tuca Negra, den Raum betreten, gefolgt von einem Schwall kalter Luft, Marcel und ein paar auserwählten Skifahrern, und sie trat zu ihm, übermittelte ihm die Glückwünsche des Gouverneurs für die gelungene Abfahrt der Gruppe und sagte dann: »Heute abend fahre ich nicht nach Barcelona zurück, ich bleibe in Torena«, was weniger eine Information war als vielmehr ein Befehl. »So, und nun geh mit Marcel zum Gouverneur und begrüße ihn.« Quique unterdrückte ein zufriedenes Lächeln auf seinem schneegebräunten Gesicht und ging mit Marcel Vilabrú zum Gouverneur hinüber. Don Nazario Prats ignorierte den Schönling geflissentlich, legte statt dessen seine Hände auf die Schultern des Sprößlings der Familie Vilabrú – ein stämmigerer Bursche als sein Schwachkopf von Vater – und sagte: »Marcelo, Marcelo, wenn dein Vater heute hier wäre, er wäre sehr stolz auf dich. Armer Santiago, daß er das nicht mehr erleben darf …« Dabei dachte er, ich weiß, wovon ich rede, denn deinen Vater und mich verband eine tiefe, echte Freundschaft. Wir waren uns so nah, daß er sozusagen in meinen Armen gestorben ist, der arme Santiago. Marcel Vilabrú lächelte unverbindlich und dachte daran, daß sein Vater für ihn nicht mehr war als ein kaltes Gesicht auf dem einzigen Foto unter all den zahlreichen Familienfotos im Wohnzimmer von Casa Gravat. »Es ist ein Jammer, daß Papà heute nicht dabeisein kann«, entgegnete er dem Gouverneur für alle Fälle. Sehr gut, Jacinto, du machst das ausgezeichnet.

3
    Sie hörte nicht, was der Junge sie fragte, der ungeduldig an ihrem Ärmel zupfte, denn obwohl sie die Karte mit dem asiatischen Kontinent vor sich hatte, waren ihre erstarrten Gedanken noch immer vor dem Eingang der Pension von Ainet. Sie war davon besessen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher