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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses
Autoren: Jaume Cabré
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kurzer, aber fruchtbarer Aufenthalt im Kloster von Ràpita zu Zeiten der Äbtissin Dorotea hatte ihr eisernes Pflichtgefühl geschärft und ihr die Devise eingeprägt, daß man stets das tun mußte, was man für richtig hielt. »Eine Eins in Rechnen, eine Eins in Grammatik, eine Eins in Latein, eine Eins in Naturwissenschaften, eine Eins in Religion, Diamant ist gar kein Ausdruck für dieses Kind, Hochwürden August.«
    Unten angekommen, nahm Marcel die Fahne ab und rammte die Stange an der mit Quique und dem nervtötenden Protokollchef des Gouverneurs vereinbarten Stelle in den jungfräulichen Schnee, als hätte er soeben den Nordpol erobert, eine männliche Geste, die von Würdenträgern wie Claqueuren beklatscht wurde. Nun setzten sich oben dreißig Skiläufer in Bewegung und zogen slalomfahrend ein zierliches Geflecht von Spuren in den Schnee, was mit erneutemBeifall quittiert wurde. Don Nazario Prats drehte sich halb um, und man präsentierte ihm ein Silbertablett mit einem roten Kissen, auf dem die Einweihungsschere ruhte. Er packte sie heftig, als wollte er eine Dummheit begehen. Onésimo Redondo höchstpersönlich, der Führer der Nationalsyndikalistischen Initiative, hatte ihm eines Abends verraten, daß ein Einfall, um genial zu sein, intuitiv und spontan sein müsse. Jetzt hatte er einen solchen genialen Einfall und reichte, ohne nachzudenken, die Schere an die Witwe Vilabrú weiter.
    Da, du Miststück, am liebsten würde ich sie dir in den Hals rammen.
    »Wer wäre geeigneter als Sie, Senyora Elisenda, mir bei der Einweihung der Skipiste von Tuca Negra zur Hand zu gehen?«
    Senyora Elisenda ließ sich nicht lang bitten. Sie kannte ihre Rechte, und so ging sie ihm nicht nur zur Hand, sondern zerschnitt selbst das zweifarbige Band, das die Würdenträger bisher daran gehindert hatte, zum Sessellift und dem pittoresken Schweizerhaus hinüberzugehen, wo man ihnen einen schönen heißen Kaffee mit Schuß versprochen hatte. Würdenträger und Autobusinsassen beklatschten auch das Zerschneiden des Bands und sahen dann zu, wie Senyora Elisenda von Casa Gravat die Schere wieder auf das Kissen legte und sich in Begleitung des Gouverneurs auf den Weg zum Chalet machte, dem zukünftigen Vereinslokal von Tuca Negra. Nur die Honoratioren übertraten die nicht länger sichtbare Einweihungslinie, denn die Leute aus den Bussen hatten noch nie Skier unter ihren Füßen gehabt, obwohl sie mit dem Schnee vertraut waren. Sie hatten im Winter genug damit zu tun, ihre Geräte auszubessern und instand zu setzen, Sensen zu dengeln, Gewehre und Karrenräder zu reparieren, Maschinen zu ölen, Risse zu stopfen, schadhafte Dachziegel auszutauschen, wenn nicht ganz so viel Schnee lag, ihr Vieh zu versorgen und in die Ferne zu blicken und von einem anderen, unerreichbaren Leben zu träumen. Nur die Honoratioren übertraten also die Linie – und, ungebeten,Senyora Elisendas Chauffeur Jacinto Mas, der seiner Herrin nie von der Seite wich, weniger, weil er fürchtete, jemand könne ihr etwas zuleide tun, sondern vielmehr, weil er fühlte, daß sein Leben, die Narbe in seinem Gesicht und seine Zukunft nur dann einen Sinn hatten, wenn Senyora Elisenda ihn ansah und ihr Blick sagte, sehr gut, Jacinto, du machst das ausgezeichnet.
    Hochwürden August Vilabrú segnete das Vereinslokal (Wände aus lasiertem Holz, imitierte Pokale, große Fenster, die auf die Piste hinausgingen), versprengte Weihwasser gegen das Böse und nuschelte »Asperges me« und daß von diesem Ort stets nur Gutes ausgehen möge. Doch schon wenige Jahre später würde sich hier zwischen Quique und Marcel die Szene unter der Dusche abspielen, der Haß, der sich in Quique angestaut hatte, würde sich in Flüchen und Gotteslästerungen entladen, im Vereinslokal von Tuca Negra würde in jeder Skisaison etwa dreißigmal Ehebruch begangen, bei guten Schneeverhältnissen sogar bis zu vierzigmal, und viele der Stammgäste waren zwar äußerst kultiviert, aber völlig skrupellos. Aber wie sollte Hochwürden August Vilabrú das ahnen? Im Gegensatz zu Bibiana kannte er die Zukunft der Dinge und Menschen nicht, und so erteilte er mit der Seelenruhe des Unwissenden großzügig seinen Segen.
    Durch die Fenster des Vereinslokals bot sich den Honoratioren ein großartiger Ausblick auf die dreißig Skifahrer, junge, athletische Männer und Frauen mit gebräunter Haut und weißen Zähnen, die betont sorglos plauderten und nur von Zeit zu Zeit zur Kamera der Wochenschau hinüberschielten,
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