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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses
Autoren: Jaume Cabré
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unbekannt, daß er als Provinzchef des Movimiento gewisse Vorrechte genoß. Aber ihr waren seine Vorrechte völlig egal, sie brachte ihn um seine rechtmäßigen Einkünfte, und das mit einer Kaltschnäuzigkeit, die eines Stalin würdig gewesen wäre. Eines Stalin, jawohl. Für die Kameras setzte er eine freundliche Miene auf, während er zusah, wie Marcel, der Sprößling des seligen Kameraden Santiago Vilabrú, elegant den Hang hinunterglitt bis zu der Stelle, wo er, drei Subdelegierte, sechs Bürgermeister und die verfluchte Witwe gemeinsam mit drei Autobussen voller Claqueure aus Vall d’Àssua, Caregue und Batlliu der Eröffnung der Skipiste von Tuca beiwohnten, die eine Innovation war, eine mutige Initiative und ein Ansporn für die Zukunft. Die Autobusinsassen klatschten eifrig, denn sie hatten kein Wort verstanden, und so handelte es sich wohl um etwas Bedeutendes. Marcel Vilabrú Vilabrú, ein ausgezeichneter Skifahrer, war in zweitausenddreihundert Meter Höhe gestartet; auf seinem Rücken knatterte die rot-goldene spanische Fahne im Wind, und seine Skier rauschten leise durch den Schnee, als er hangabwärts sauste, in Schwüngen, die er zuvor mit Quique abgesprochen und an die dreißigmal geübt hatte, damit er nicht etwa durch einen Patzer imNeuschnee landete, den er mit dieser grandiosen Abfahrt einweihte, und dabei die Fahne ruinierte und das Schauspiel verdarb.
    Don Nazario Prats verfolgte Marcels Abfahrt mit aufgesetztem Lächeln und warf von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick auf seine Widersacherin, um sicherzugehen, daß sie keinerlei Anzeichen von Langeweile, Mißmut oder sonst eine Gemütsregung erkennen ließ, die sie dazu bewogen hätte, das Ganze einem Minister zu erzählen, bloß um ihn anzuschwärzen. Einem Minister oder den Kameraden von der Falange. Aber nein, die Witwe sah ihrem geliebten Sohn zu und betrachtete voller Stolz die lautlos flatternde zweifarbige Fahne (das Knattern drang nicht bis zu den Würdenträgern herüber), während die Kameras der Wochenschau die Szene in Schwarzweiß festhielten.
    »Erst dreizehn Jahre alt und schon ein so begnadeter Skiläufer«, sagte er aufs Geratewohl, für die Ohren der Allgemeinheit, besonders aber für ihre Ohren bestimmt. Niemand entgegnete etwas, und er spürte, wie seine Hände schweißnaß wurden, wie immer, wenn er die Fassung verlor. Nicht einmal sie hatte geantwortet, dabei hätte sie sich doch ein klein wenig entgegenkommend zeigen können. Aber nein, sie will mich fertigmachen.
    Der Gouverneur sah nach links: Hochwürden August Vilabrú, dieser stille alte Kanoniker (oder was auch immer er sein mochte), beobachtete Marcel Vilabrús Abfahrt so stolz, als wäre er der Vater des Jungen. Der Gouverneur wußte nicht, daß August Vilabrú sich mit Fug und Recht zumindest als der Vater der Mutter des Jungen fühlen konnte; schließlich hatte er, als Elisenda fünf Jahre alt war, ihren Eltern gesagt: »Anselm, Pilar, dieses Mädchen ist etwas ganz Besonderes.« »Und Josep?« »Josep«, hatte er geantwortet (der arme Josep, er ruhe in Frieden), »Josep ist durchschnittlich, aber Elisenda ist außergewöhnlich intelligent, sie sieht die Dinge im Zusammenhang und …« »Schade nur, daß sie ein Mädchen ist.« »Galant wie immer.« »Anselm, Pilar, jetzt streitet euchdoch um Himmels willen nicht meinetwegen! Eure Tochter ist ein Diamant, und es wäre mir eine Ehre, ihn zu schleifen, bis er funkelt.« Aber Anselm Vilabrú war ein Hansdampf in allen Gassen, und Pilar machte, auch wenn er das damals nicht wissen konnte, anderen Männern schöne Augen, und so schenkten sie Augusts Bemerkungen keine Beachtung. Sie nahmen ihn sowieso nicht ernst: Sowohl sein Bruder als auch seine Schwägerin waren der Ansicht, Mathematiker seien schlechte Menschenkenner, noch dazu, wenn sie Priester waren. Also ergriff Hochwürden August die Initiative und brachte das Mädchen im Internat der Theresianerinnen von Barcelona unter, weil er sich der Spiritualität ihres seligen Gründervaters Enric d’Ossó, der seiner Meinung nach heiliggesprochen gehörte, stets verbunden gefühlt hatte. Er sprach mit Mutter Venància und gewann sie als Verbündete: Das arme Kind brauchte eine anständige Erziehung, denn obwohl sie aus einer der besten Familien kam, kümmerte sich dort niemand richtig um sie. Mutter Venància verstand. Sie wußte, daß Hochwürden August Vilabrú sich an sie gewandt hatte, weil sie als die Anspruchsvollste unter den Theresianerinnen galt. Ein
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