Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn.
Autoren: Stanislaw Lem
Vom Netzwerk:
habe ich nur ein paar Reste mit hinübergerettet – eine Art fortwährender Mißbilligung der Wirklichkeit, die im übrigen eher etwas mit Zorn zu tun hat denn mit Verneinung. Schon mein Lachen war eine Absage, womöglich eine wirksamere als der Selbstmord. Ich bekenne mich zu ihm mitmeinen zweiundsechzig Jahren, die Mathematik aber war nur die spätere Konsequenz dieser Haltung. Sie war meine zweite Fahnenflucht.
    Ich meine das im übertragenen Sinne – doch man wolle mich bis zu Ende anhören.
    Ich verriet meine im Sterben liegende Mutter, also alle Menschen, ich entschied mich durch mein Gelächter für die ihnen überlegene Macht, wenn sie auch abscheulich war, weil ich keinen anderen Ausweg sah. Doch später machte ich die Erfahrung, daß ich diesen unseren Gegner, der alles ist, der sich auch in uns eingenistet hat, ebenfalls verraten konnte, zumindest bis zu einem bestimmten Grade, weil die Mathematik unabhängig ist von der Welt.
    Die Zeit enthüllte mir, daß ich mich ein zweites Mal getäuscht hatte. Sich wirklich für den Tod und gegen das Leben und für die Mathematik, gegen die Welt zu entscheiden, geht nicht an. Eine wirkliche Entscheidung bedeutet nur den eigenen Untergang. Denn was immer wir auch tun, wir tun es innerhalb des Lebens, und die Erfahrung lehrt, daß auch die Mathematik kein vollkommener Zufluchtsort ist, denn sie ist in der Sprache zu Hause. Diese Pflanze der Information hat in der Welt Wurzeln geschlagen und in uns. Dieser Vergleich hat mich immer schon verfolgt, sogar als ich ihn noch nicht in die Sprache eines Beweises zu übersetzen vermochte.
    In der Mathematik suchte ich das, was kostbar gewesen war an der Kindheit – die Vielzahl der Welten, die die Bande zu der aufgezwungenen Welt so leicht zerreißt, als wohnte dieser nicht die Kraft inne, die auch in uns selber steckt und die nur tief genug verborgen liegt, damit wir ihr Vorhandensein vergessen können. Doch dann überzeugte ich mich wie jeder Mathematiker staunend, wie umwerfend überraschend und unglaublich vielseitig jene Beschäftigung ist, die anfangs einem Spiel zu ähneln scheint. Man dringt voller Stolz in sie ein und trennt offen und sichtbardas Denken von der Welt ab – durch willkürliche Entscheidungen, die in ihrer Apodiktik der Schöpfung gleichkommen, nehmen wir einen endgültigen Schnitt vor, der uns von jenem Gewühl separieren soll, in dem wir zu leben haben.
    Und siehe, just diese Absage, dieser ganz radikale Bruch führt uns zum Kern der Erscheinungen, und die Flucht erweist sich als Eroberung, die Desertion als Begreifen und der Bruch als Versöhnung. Doch zugleich machen wir die Entdeckung, daß die Flucht nur eine scheinbare war, da wir doch zu dem zurückkehren, vor dem wir davonzulaufen suchten. Der Feind mausert sich zum Verbündeten, wir werden einer Reinigung teilhaftig, bei welcher die Welt uns schweigend zu erkennen gibt, daß wir sie nur durch sie selbst überwinden können. So ist die Furcht gebannt und verkehrt sich in Faszination an jenem besonderen Zufluchtsort, wo die innersten Bereiche ja gerade wieder die Oberfläche unserer einen, einzigen Welt berühren.
    Die Mathematik offenbart den Menschen niemals in dem Grade, bringt ihn niemals so zum Ausdruck, wie das jede andere menschliche Arbeit tut: Der Aufhebungsgrad der eigenen Körperlichkeit, den man in ihr erreicht, ist mit nichts vergleichbar. Durch diese Worte neugierig Gewordene verweise ich auf meine Arbeiten. Hier kann ich nur das eine sagen, daß die Welt der menschlichen Sprache ihre Gesetze eingeimpft hat, als die Sprache eben im Entstehen begriffen war. Mathematik schlummert in jedem gesprochenen Wort, und sie braucht nur aufgefunden, nicht aber erfunden zu werden.
    Was an ihr die Krone ist, läßt sich nicht trennen von ihrer Wurzel, denn sie entstand nicht im Verlaufe von dreihundert oder achthundert Jahren Zivilisationsgeschichte, sondern in den Jahrtausenden der Sprachentwicklung: auf dem Reibungsfeld zwischen Mensch und Umwelt, zwischen den Menschen und zwischen den Strömen. Die Sprache ist weiser als der Intellekt eines jeden von uns, ebenso wie der Körper jedes einzelnen Menschen klüger ist und mehr weiß als er selbst, denn er ist von sich aus allseitig im Strom des Lebensprozesses. Wir haben das Erbe dieser beiden Evolutionen, der lebenden Materie und der Materie der Informationssprache, noch nicht ausgeschöpft, und schon träumen wir davon, über die Grenzen beider hinauszugehen. Diese Worte mögen billige
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher