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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn.
Autoren: Stanislaw Lem
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bewundernswerterweise drauf, daß selbst das Absolutum Lücken haben sollte!), um der hartgewordenen Masse überschüssiger Energien freien Lauf zu lassen, die in keinem kodifizierten System unterzubringen sind und die sich nur zum geringen Teil in der kriegerischen und der familiären Maske ausleben können, an der Kandare von Sitte und Brauch.
    Vernünftig war es, rational, jene Fesseln und sozialen Regeln hin und wieder entzweizuhauen. Die Gruppentrance, das freigesetzte und von betäubenden Rhythmen und Giften gepeitschte Pandämonium war ein Öffnen der Sicherheitsventile, durch die das Agens der Zerstörung ausströmte, jene Barbarei war durch diese besondere Erfindung dem Menschen angepaßt. Das Prinzip des Verbrechens, aus dem man aussteigen kann, des reversiblen Wahnsinns, des innerhalb der sozialen Ordnung rhythmisch pulsierenden Risses, wurde zunichte gemacht, und nun müssen alle jene Kräfte im Geschirr gehen, Tretmühlen betätigen, Rollen spielen, die für sie zu eng und immer falsch bemessen sind, also nagen sie an allem, was alltäglich ist, sind heimlich überall, weil sie nirgendwo unter eigenem Namen auftreten dürfen. Jeder von uns ist von Kind auf an irgendein öffentlich zugelassenes Stück von sich selbst gekettet, was ausgewählt, geschult wurde, den Consensus omnium erlangte, jeder hegt und pflegt diesen Sektor, glättet, vervollkommnet ihn, hätschelt nur ihn, auf daß er sich so gut wie möglich entwickle, und jeder tut so, als wäre er – der doch nur ein Teilchen ist – ein Ganzes. Ein Stumpf mit Ganzheitsanspruch!
    Wie weit ich mich auch zurückerinnere, immer habe ich eine Ethik vermißt, die in der Sensibilität ihre Wurzeln hat. Wohlweislich habe ich mir eine Art Prothese dafür aufgebaut. Für ein solches Vorgehen brauchte ich jedoch einen guten Grund, denn Gebote im leeren Raum anzusiedeln ist dasselbe, wie zur Beichte zu gehen, ohne an sie zu glauben. Ich behaupte nicht, ich hätte mein Leben so theoretisch geplant, wie ich es hier darstelle. Ich habe mir für mein Tun auch nicht im nachhinein Axiome zurechtgezimmert. Ich bin immer auf ähnliche Art und Weise vorgegangen, zu Anfang allerdings unbewußt. Meine Motive erriet ich später.
    Wenn ich mich für einen von Grund auf guten Menschen hielte, wäre ich gewiß nicht fähig, das Böse zu verstehen.
    Ich wäre der Meinung, die Menschen begingen es mit Vorbedacht – immer mit Vorbedacht, täten also das, was sie vorher beschlossen hätten, denn ich fände keine anderen Quellen für Niedertracht in meinem eigenen Erleben. Ich kannte mich jedoch besser aus, weil ich gleichzeitig sowohl um die eigenen Neigungen als auch um die Schuldlosigkeit an ihnen wußte, denn ich hatte ja denjenigen, der ich bin, in mir vorgefunden, ohne gefragt worden zu sein, ob ich eine solche Struktur gutheiße.
    Nun, und daß der eine Sklave den anderen unterdrückt, damit die Kräfte, die beiden innewohnen, befriedigt werden, daß die eine Schuldlosigkeit die andere quält, wenn auch nur die geringste Chance besteht, sich solchem Druck zu widersetzen – das beleidigte meinen Verstand. Wir sind uns selber vorgegeben, und wir können diese Gaben im Ganzen nicht anders denn erfolglos in Frage stellen, aber wenn sich auch nur die geringste Chance vor uns auftut, uns dem, was wir vorfinden, entgegenzustellen – wie sollten wir sie nicht nutzen? Nur solche Entscheidungen und solche Handlungen sind unser ausschließlicher, menschlicher Besitz, ebenso wie die Möglichkeit des Selbstmords: dies ist der Bereich der Freiheit, in welchem das unerwünschte Erbe ausgeschlagen wird.
    Bitte haltet mir nicht entgegen, ich widerspräche mir selbst, mir, der ich in der Ära des Höhlenmenschen die Zeit sah, in der ich mich besser hätte verwirklichen können. Wissen ist irreversibel, es kann sich nicht ins Dunkel einer süßen Unwissenheit zurückziehen. Zu jener Zeit hätte ich Wissen nicht besessen, und ich hätte es nicht erlangen können. Das, was ich besitze, muß ich nutzen. Ich weiß, daß uns ein Zufall zusammengesetzt und strukturiert hat, und ich sollte willfährig allen Direktiven folgen, die in zahllosen Ziehungen blindlings ausgelost wurden?
    Mein »principium humanitatis« ist insofern ein besonderes, als, wenn es jemand von Grund auf Gutes auf sichselbst anwenden wollte, er – laut der Direktive, »die eigene Natur zu überwinden« – Böses tun müßte, um sich selbst in seiner menschlichen Freiheit zu bestätigen. Mein Grundsatz ist also nicht dazu
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