Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn.
Autoren: Stanislaw Lem
Vom Netzwerk:
Menschheit eine Explosion durchgemacht hat. Wenn ich mich entschlossen habe, meine eigenen Erinnerungen über die Arbeit an »Master’s Voice« niederzulegen, dann deshalb, weil mich nichts von dem, was ich darüber gelesen habe, zufriedenstellt. Ich verspreche nicht, »die Wahrheit und nichts als die Wahrheit« zu schreiben. Wenn unsere Anstrengungen von Erfolg gekrönt gewesen wären, wäre dies möglich, und es würde zugleich mein Vorhaben überflüssig machen, denn jene Endwahrheit hätte die Umstände, unter denen sieerlangt wurde, in den Schatten treten lassen und wäre eine ins Herz der Zivilisation gerammte materielle Tatsache gewesen. Unser Scheitern jedoch hat alle diese Anstrengungen gewissermaßen wieder zu ihren Quellen zurückgedrängt. Da wir das Rätsel nicht verstehen, bleibt uns eben nichts als jene Umstände, die lediglich das Gerüst, nicht das Gebäude, der Übertragungsvorgang, nicht aber der Inhalt des Werkes hatten sein sollen. Ersteres indessen ist, wie sich herausstellte, alles, womit wir von unserer Fahrt nach dem Goldenen Vlies der Sterne heimgekehrt sind. Schon an dieser Stelle weiche ich ab vom Tenor auch solcher Versionen, die ich als objektiv bezeichnet habe, angefangen bei Baloynes »Report«, weil selbst ein Wort wie »Scheitern« dort nicht vorkommt. Sind wir denn aus dem Projekt nicht unvergleichlich reicher hervorgegangen, als wir es waren bei seinem Beginn? Die neuen Kapitel der Kolloidphysik, der Physik der starken Wechselwirkung, der Neutrinoastronomie, der Nukleonik, der Biologie und vor allem die neuen Erkenntnisse über den Kosmos sind ja schon die ersten Prozente jenes Informationskapitals, welches, nach Ansicht der Fachleute, weitere Profite abzuwerfen verspricht.
    Sehr wohl. Allein, der Nutzen hat vielerlei Gestalt. Die Ameisen, die auf ihrer Wanderschaft an einen toten Philosophen geraten, ziehen daraus auch ihren Gewinn. Falls das Beispiel schockierend ist – eben darauf kommt es mir an. Die Literatur hatte seit ihrer Geburt angeblich einen Feind: die Beschränkung des geäußerten Gedankens. Es zeigt sich jedoch, daß die Freiheit des Wortes für den Gedanken noch tödlicher sein kann; verbotene Gedanken kursieren insgeheim, was aber bleibt uns dort, wo eine bedeutungsvolle Tatsache in einer Schwemme von Fälschungen untergeht und die Stimme der Wahrheit übertönt wird von unsäglichem Getöse und, obwohl sie ungehindert erklingt, nicht gehört werden kann, denn die Informationstechniken haben bisher einzig dazu geführt, daß man amdeutlichsten den vernimmt, der am lautesten brüllt, und brülle er noch so falsch?
    Ich, der ich so manches über das Projekt zu sagen habe, habe lange geschwankt, ehe ich mich an den Schreibtisch setzte, weil ich sehr wohl weiß, daß ich die ohnehin schon angeschwollene Papierflut noch vermehre. Ich hoffte immer, ein Wortgewandterer als ich würde diese Arbeit für mich tun, bis ich nach Jahren erkannte, daß ich nicht schweigen dürfe. Die ernst zu nehmenden Werke über das »Master’s Voice«-Projekt, die objektiven Versionen, allen voran die des Kongresses, räumen ein, daß wir nicht alles erfahren haben, die Platzmenge indes, die sie dem Erreichten widmen, während sie das Nichterkannte auf wenigen Seiten erwähnen, legt schon durch die Proportionen nahe, wir hätten uns des Labyrinths bemächtigt – ein paar sicherlich blinder, vielleicht verschütteter Gänge ausgenommen –, dabei haben wir es nicht einmal betreten. Bis zuletzt auf Vermutungen angewiesen, haben wir ein paar Splitter von den Siegeln abgekratzt, die es verschließen, und uns an dem Glanz entzückt, der uns, als wir sie zerrieben hatten, die Fingerkuppen vergoldete. Über das, was da verschlossen liegt, wissen wir nichts. Dabei ist es eine der vornehmsten Aufgaben des Wissenschaftlers, nicht das Ausmaß des erlangten Wissens zu definieren, denn dieses erklärt sich durch sich selbst, sondern das Ausmaß des Unwissens, das den unsichtbaren Atlas eben dieses Wissens bildet.
    Ich habe keinerlei Illusionen. Ich befürchte, daß ich nicht gehört werden werde, denn Universalautoritäten gibt es nicht mehr. Das Spezialistenwesen oder auch -unwesen ist bereits so weit gediehen, daß mich die entsprechenden Fachleute immer für unzuständig erklären werden, sobald ich ihr Terrain betrete. Es heißt schon seit langem, der Spezialist sei ein Barbar, dessen Unwissenheit nicht allumfassend ist. Meine pessimistischen Prophezeiungen fußen auf persönlicher Erfahrung.
    Vor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher