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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn.
Autoren: Stanislaw Lem
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wie Perfektion auch an der Wiege jedes einzelnen Individuums nicht zugegen ist.
    Es ist höchst aufschlußreich, daß die Zeichen unserer Unvollkommenheit als Artvertreter niemals, nicht von einer einzigen Glaubensrichtung als das anerkannt wurden, was sie schlechterdings sind, nämlich als Resultate von Fehlleistungen, sondern im Gegenteil, fast alle Religionen gehen darin überein, daß die Unvollkommenheit des Menschen das Ergebnis eines Zusammenpralls zweier antagonistischer Demiurgenperfektionen ist, die sich gegenseitig ins Handwerk pfuschten. Die helle Vollkommenheit stieß mit der dunklen zusammen, und es entstand der Mensch: so lautet ihre Formel.
    Meine Konzeption klingt nur dann vulgär, wenn sie falsch sein sollte – und ob sie es ist, das entzieht sich unserer Kenntnis. Der erwähnte Freund hat sie grotesk umformuliert, indem er sagt, nach Hogarth ist die Menschheit einBuckliger, der, da er nicht weiß, daß man auch gerade gewachsen sein kann, seit Jahrtausenden nach Zeichen einer höheren Notwendigkeit für seinen Buckel sucht, weil er bereit ist, jede Version zu akzeptieren außer der einen, daß sein Gebrechen purer Zufall ist, daß ihn niemand aus höherer Absicht damit bedacht hat, daß es absolut zu gar nichts dient, weil die Verschlingungen und Seitenpfade der Anthropogenese es eben so mit sich brachten.
    Aber ich wollte von mir reden und nicht von der Gattung. Ich weiß nicht, woher sie in mir rührt und worauf sie zurückgeht – aber noch jetzt, nach so vielen Jahren, vermag ich in mir eine Bosheit zu entdecken, die nicht alt geworden ist, denn die Energien des primitivsten Instinktlebens altern niemals. Sollte ich Ärgernis erregen? Über -zig Jahre hinweg habe ich als Rektifikationskolonne gewirkt und ein Destillat produziert, das sich aus einem Stapel von Arbeiten sowie der durch diese meine Arbeiten ausgelösten Hagiographien zusammensetzt. Wenn ihr sagt, die Innereien einer Apparatur, die ich unnötigerweise ans Tageslicht zerre, gingen euch nichts an, so wollt bedenken, daß ich in der Reinheit der Kost, mit der ich euch bewirtet habe, die dauerhaften Zeichen aller meiner Geheimnisse erblicke.
    Die Mathematik war nicht mein Arkadien, sie war vielmehr der Strohhalm des Ertrinkenden, war die Kirche, welche ich, der Ungläubige, betrat, weil darin die Treuga Dei herrschte. Meine wichtigste mathematische Arbeit hat man als destruktiv bezeichnet – nicht zufällig. Nicht durch Zufall stellte ich die Grundlagen der mathematischen Deduktion und die Begriffe des Analytischen in der Logik unwiderruflich in Frage. Ich richtete die Werkzeuge der Statistik gegen diese Grundlagen, bis sie sie auseinandersprengten. Ich war außerstande, ein Teufel in der Unterwelt und ein Engel im Sonnenlicht zu sein. Ich schuf, aber auf Schutt und Trümmern, und Yowitt hat recht: Ich habe mehr Wahrheiten weggenommen als neue beigesteuert.
    Diese negative Bilanz hat man der Epoche zur Last gelegt, nicht mir, weil ich nach Russell und nach Gödel kam, nachdem ersterer Risse in den Fundamenten des Kristallpalastes entdeckt und der zweite diese Fundamente ins Wanken gebracht hatte. Man sagte also, ich hätte in Übereinstimmung mit dem Geist der Zeit gehandelt. Gewiß doch. Aber ein dreieckiger Smaragd hört nicht auf, ein dreieckiger Smaragd zu sein, auch wenn er zu einem menschlichen Auge wird – in einem Mosaikbild.
    Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, was aus mir geworden wäre, wenn ich innerhalb einer der viertausend sogenannten primitiven Kulturen geboren worden wäre, die der unseren vorausgegangen sind, in jenen Abgründen von achtzigtausend Jahren, die unsere mangelnde Phantasie zum Vorfeld, zum Wartezimmer der eigentlichen Geschichte zusammenschrumpfen läßt. In manchen wäre ich sicherlich zuschanden gegangen, doch in anderen hätte ich mich, wer weiß, womöglich um vieles besser verwirklichen können – als ein Erleuchteter, der dank der Gabe, Elemente zu kombinieren, die ich mit auf die Welt brachte, neue Riten und Magien schafft. Vielleicht hätte ich ohne den Hemmschuh, den die Relativierung jeglichen begrifflichen Seins in unserer Kultur bildet, widerstandslos Orgien der Zerstörung und der Zügellosigkeit zur heiligen Handlung erheben können, weil man in jenen uralten Kreisen den Brauch praktizierte, die Tagesgesetze zeitweilig und wiederholbar außer Kraft zu setzen, mit anderen Worten, die Kultur zu sprengen (sie war der Boden, der Fels, das Absolutum, und dennoch kam man
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