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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn.
Autoren: Stanislaw Lem
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Philosophiererei sein, doch meine Beweise für die sprachliche Genese der mathematischen Begriffe, also dazu, daß diese Begriffe weder durch die Zählbarkeit der Dinge noch durch den Scharfsinn des Verstandes entstanden, sind es nicht mehr.
    Die Gründe, die mich Mathematiker werden ließen, sind gewiß kompliziert, und einer von den wichtigsten ist Können, ohne das ich in meinem Fach gerade soviel ausgerichtet hätte wie ein Buckliger als Rekordanwärter in der Leichtathletik. Ich weiß nicht, ob Motive, die den Charakter und nicht das Können betreffen, eine Rolle bei der Geschichte gespielt haben, die ich erzählen möchte, aber ich darf diese Möglichkeit nicht ausschließen, denn die Sache selbst ist von solchem Kaliber, daß daneben weder natürliche Scham noch Stolz von Belang sein können.
    Für gewöhnlich pflegen Memoirenschreiber in der Aufrichtigkeit ihrer Bekenntnisse sehr weit zu gehen, wenn sie meinen, was sie über sich selbst zu enthüllen haben, sei unsagbar wichtig. Ich mache, umgekehrt, die absolute Unwichtigkeit meiner Person zur Voraussetzung meiner Aufrichtigkeit, das heißt, zu Redseligkeit, die ich grundsätzlich für unausstehlich halte, zwingt mich allein der Umstand, daß ich nicht weiß, wo in der Persönlichkeitsstruktur die statistische Laune aufhört und wo die für die gesamte Gattung gültige Regel beginnt.
    Auf den unterschiedlichsten Gebieten kann man ein reales Wissen erwerben oder auch nur eines, das uns geistige Bequemlichkeit verschafft, wobei sich beide Wissensartendurchaus nicht zu decken brauchen. Diese beiden Arten von Wissen auseinanderzuhalten, ist in der Anthropologie nahezu unmöglich. Wenn wir nichts so wenig kennen wie uns selbst, dann wohl deshalb, weil wir immer wieder nach Wissen darüber verlangen, was den Menschen geformt hat, das es in Gestalt von Information nicht gibt, und wir, ohne uns darüber klar zu werden, von vornherein ausschließen, daß eine Verquickung von x-beliebigen Zufällen und allertiefster Notwendigkeit denkbar wäre.
    Irgendwann einmal erstellte ich ein Programm für das Experiment eines Freundes. Dieses Experiment beruhte darauf, im mathematischen Milieu einer Rechenmaschine eine Familie von neutralen Wesen zu modellieren, das heißt von Homöostaten, die jenes Milieu allmählich erkennen sollten, ohne daß sie anfangs irgendwelche »emotionale« oder »ethische« Eigenschaften besaßen. Diese Wesen vermehrten sich natürlich nur in der Maschine, folglich als das, was der Laie als bestimmte Form von »Rechenoperationen« bezeichnen würde, und nach einigen -zig »Generationen« tauchte immer von neuem bei sämtlichen »Exemplaren« eine Eigenschaft auf, die uns ganz unerklärlich war: etwas wie eine Entsprechung der »Aggressivität«. Nach unsagbar mühseligen und vergeblichen Kontrollberechnungen begann mein verzweifelter Freund schließlich, wirklich nur noch aus Verzweiflung, den allerunwesentlichsten Begleitumständen des Versuchs nachzugehen, und dabei stellte sich heraus, daß ein bestimmtes Relais auf Veränderungen der Luftfeuchtigkeit reagierte, die zu dem unerkannten Urheber der Abweichung geworden waren. Ich komme nicht umhin, an diesen Versuch zu denken, während ich dies schreibe, denn könnte es nicht so gewesen sein, daß uns die soziale Entwicklung auf einer Exponentialkurve aus dem Tierreich herausgetragen hat, uns, die wir grundsätzlich für einen solchen Höhenflug nicht vorbereitet waren? Die Reaktion der Sozialisierung begann,kaum daß menschliche Atome die erste Bindungsfähigkeit zeigten. Diese Atome waren ein nur biologisch vorgefertigtes Material, fähig, typisch biologische Kriterien zu erfüllen, jene Bewegung aber, jener Stoß nach oben, riß uns heraus und trug uns empor in den Raum der Zivilisation. Kann nicht solch ein Start in dem biologischen Material zufällig Übereinstimmendes miteinander verknüpft haben, so wie eine Sonde, die, auf den Meeresgrund entsandt, mit ihrem Greifer neben dem, worauf sie ausgerichtet ist, auch unwichtiges Gerümpel und Geröll von dort mit aufnimmt? Ich erinnere an das feucht werdende Relais der zuverlässigen Rechenmaschine. Weshalb eigentlich sollte jener Prozeß, der uns hervorgebracht hat, in irgendeiner Hinsicht vollkommen gewesen sein? Und doch wagen weder wir noch unsere Philosophen den Gedanken, daß die Endgültigkeit und Einzigartigkeit der Existenz der Gattung durchaus die Perfektion nicht einschließt, die bei ihrer Entstehung Pate gestanden haben soll – genau
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