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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn.
Autoren: Stanislaw Lem
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Zimmer, hatte ich mich noch in der Gewalt, aber einmal, als ich sie verließ und schon die Tür hinter mir zugemacht hatte und sah, daß ich allein war, schnitt ich eine übermütige Grimasse zum Schlafzimmer hin, und weil mir das noch nicht genügte, rannte ich in mein Zimmer und tanzte keuchend, mit geballten Fäusten, vor dem Spiegel herum, während ich Fratzen schnitt und vor unbändiger Freude kicherte. Vor Freude? Ich verstand sehr wohl, daß meine Mutter im Sterben lag, und seit dem Morgen hatte ich mich der Verzweiflung überlassen, und diese Verzweiflung war ebenso echt wie jenes unterdrückte Kichern. Ich entsinne mich genau, wie es mich entsetzte, und gleichzeitig ließ ich damit alles hinter mir, was ich bisher erfahren hatte, und in diesem Schritt lag eine vernichtende Erleuchtung.
    Noch in der Nacht, als ich allein lag, suchte ich zu begreifen, was geschehen war, und unfähig dazu, brachte ich mich mit der gebührenden Bemitleidung meiner selbst und meiner Mutter zu Tränen, bis ich einschlief. Ich hielt diese Tränen sicherlich für Sühne, doch danach, als ich die immer schlechteren Nachrichten, die die Ärzte meinem Vater brachten, erlauschte, begann alles von vorn. Ich fürchtete mich, auf mein Zimmer zu gehen, und suchte damals bewußt die Nähe von Menschen. Der erste Mensch, der mir Angst einjagte, war also ich selbst.
    Der Tod meiner Mutter stürzte mich in eine kindliche Verzweiflung, die durch keinerlei Vorbehalte beeinträchtigt war. Mit ihrem letzten Atemzug endete die Faszination. Zusammen mit ihr erlosch die Angst. Diese Geschichte ist so undurchsichtig, daß ich nur Hypothesen aufzustellen vermag. Ich hatte den Niedergang eines Absolutums beobachtet, das sich als Täuschung entpuppte, einen schändlichen, obszönen Kampf, weil die Vollkommenheit dabei zerfiel wie der letzte Lumpen. Hier war die Ordnung des Lebens mit Füßen getreten worden, und obwohl die Menschen über mir das Repertoire dieser Ordnung sogar für derart düstere Gelegenheiten mit besonderen Beigaben ausstatteten, wollte dieses Beiwerk doch nicht zu dem passen, was da vor sich ging. Man kann nicht mit Würde, mit Anmut brüllen vor Schmerzen, ebensowenig wie vor Lust. In der Nachlässigkeit der Zerstörung erahnte ich die Wahrheit. Vielleicht erkannte ich in dem, was da hereinbrach, die stärkere Seite, also entschied ich mich für sie, weil sie die Oberhand gewann.
    Mein heimliches Lachen hatte nichts zu tun mit den Schmerzen meiner Mutter. Vor diesen Schmerzen empfand ich nur Angst, sie waren der unvermeidliche Begleiter des Sterbens, das begriff ich wohl. Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte sie von ihren Schmerzen befreit, ich wünschte mir weder, daß sie litt, noch daß sie starb. Zu einem wirklich vorhandenen Mörder wäre ich weinend und flehend hingestürzt, wie jedes andere Kind, doch da es den nicht gab, konnte ich lediglich die Perfidie der zugefügten Grausamkeit in mich aufnehmen. Ihr aufgedunsener Leib verwandelte sich allmählich in eine monströse Karikatur seiner selbst, verhöhnt und sich krümmend unter diesem Hohn. Mir blieb keine andere Wahl, als entweder mit ihr zu sterben oder sie zu verlachen, also wählte ich, Feigling, der ich war, das Gelächter des Verrats.
    Ich kann nicht sagen, ob es wirklich so war. Der erste Lachkrampf packte mich beim Anblick der Zerstörung, und vielleicht wäre mir diese Erfahrung erspart geblieben, wenn meiner Mutter eine ästhetischere Todesart beschieden gewesen wäre, einem stillen Einschlafen vergleichbar, denn dies ist eine von den Menschen positiv bewertete Form. So war es jedoch nicht, und gezwungen, meinen eigenen Augen zu trauen, stand ich wehrlos. Der in früheren Epochen rechtzeitig herbeigeholte Chor der Klageweiber hätte das Gewimmer meiner Mutter übertönt. Die Degeneration der Kultur hat jedoch die magischen Praktiken zum Friseurhandwerk degradiert, denn der Bestattungsunternehmer – auch das hatte ich erlauscht – schlug meinem Vater verschiedene Gesichtsausdrücke vor, zu denen er ihre Todesgrimasse umformen könne. Daraufhin verließ mein Vater das Zimmer, und ich spürte für einen kurzen Augenblick, wie mich ein solidarisches Gefühl durchzuckte, weil ich ihn verstand. Ich dachte später unzählige Male an diese Agonie.
    Die Version vom Lachen als Verrat erscheint mir unzureichend. Verrat ist das Ergebnis von Erkenntnis, was aber macht, daß uns die Zerstörung anzuziehen vermag? Was für eine finstere Hoffnung schöpft der Mensch aus ihr? Ihre
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