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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn.
Autoren: Stanislaw Lem
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faktographisch geschlossenen Sammlung fügen. Selbst verständige, doch junge und also aus Unerfahrenheit naive Personen sehen darin nichts außer Zynismus. Sie sind im Irrtum, denn es handelt sich nicht um ein moralisches, sondern um ein erkenntnistheoretisches Problem. Die metaphysischen Glaubensrichtungen stehen keineswegs in ihrer Zahl den mannigfaltigen Glaubensvorstellungen nach, denen der Mensch zur eigenen Person anhängen kann – der Reihe nach, in verschiedenen Lebensabschnitten, und mitunter auch zur gleichen Zeit.
    Und so behaupte ich auch nicht, ich könnte viel mehr als die Vorstellungen vermitteln, die ich seit ungefähr vierzig Jahren über mich habe, und als das einzige Besondere daran erscheint mir der Umstand, daß sie nicht schmeichelhaft für mich sind. Diese Unschmeichelhaftigkeit beschränkt sich jedoch nicht auf das »Herunterreißen der Maske«, welches der einzige, dem Psychoanalytiker verfügbare Trick ist. Von einem genialen Menschen beispielsweise zu sagen, er sei moralisch ein Schwein gewesen, heißt noch nicht unbedingt, ihn dort zu treffen, wo womöglich seine private Schande sitzt. Ein »den Gipfel der Epoche erreichender Intellekt«, wie es bei Yowitt heißt, wird von solcherart Diagnose nicht berührt. Die Schmach des Genies kann seine intellektuelle Vergeblichkeit sein, die Selbsterkenntnis, wie wenig gesichert alles ist, was es vollbracht hat. Genialität, das ist nie aufhörendes Zweifeln – vor allem anderen. Jeder einzelne von den Großen hat sich jedoch dem Druck der Allgemeinheit gebeugt, hat die ihm zu Lebzeiten errichteten Denkmäler nicht zertrümmert und damit sich selbst nicht in Zweifel gezogen.
    Wenn ich als Person mit Genie, das mir von mehreren Dutzend gelehrten Biographen bescheinigt wird, überhaupt irgend etwas über geistige Höhepunkte aussagen kann, dann nur soviel, daß die Klarheit des Denkens ein lichter Punkt auf einem Gelände unerschöpflicher Finsternis ist. Genie ist nicht einfach nur Licht, sondern vor allen Dingen beständiges Wahrnehmen des uns umgebenden Dunkels, und seine normale Feigheit besteht darin, sich im eigenen Glanze zu sonnen und, solange dies möglich ist, nicht über dessen Grenzen hinauszuschauen. Ungeachtet dessen, wieviel authentische Kraft ihm innewohnt, bleibt immer noch ein erheblicher Rest, der nur vorgetäuschte Kraft sein kann.
    Für die grundlegenden Eigenschaften meines Charakters halte ich Feigheit, Bosheit und Stolz. Der Zufall wollte es, daß dieser Dreifaltigkeit ein ganz bestimmtes Talent zu Gebote stand, das sie zu verbergen wußte und scheinbar umwandelte, und dabei half ihm die Intelligenz, im Leben eine der nützlichsten Einrichtungen, um angeborene Eigenschaften zu maskieren, sofern eine solche Operation als wünschenswert erscheint. Seit über vierzig Jahren benehme ich mich wie ein hilfsbereiter und bescheidener Mensch, bar aller Merkmale professionellen Dünkels, weil ich mich in ebendiesem Verhalten sehr lange und beharrlich geübt habe. Wie weit ich mich auch in meine Kindheit zurückversetze, immer war mein Leben von der Suche nach dem Bösen bestimmt, worüber ich mir übrigens verständlicherweise nicht im klaren war.
    Meine Bosheit war isotrop und vollkommen uneigennützig. An weihevollen Orten, wie in der Kirche oder in der Nähe besonders würdiger Personen, dachte ich mit Vorliebe an Dinge, die mir verboten waren. Daß der Inhalt dieser Gedanken albern und kindisch war, will gar nichts besagen. Ich machte meine Experimente einfach auf der Ebene, der ich seinerzeit gewachsen war. Ich erinnere mich wirklich nicht, wann ich die ersten Versuche in dieser Richtung machte. Ich erinnere mich lediglich an den schneidenden Schmerz, die Wut, die Enttäuschung, die mich später jahrelang verfolgten, als sich herausstellte, daß ein Kopf, der voller schlechter Gedanken steckt, an keinem Ort und in niemandes Nähe vom Blitz getroffen wird, daß ein Ausscheren aus der richtigen Ordnung keinerlei, aber auch nicht die geringsten Konsequenzen nach sich zieht.
    Wenn man so etwas überhaupt von einem nur wenige Jahre alten Kind sagen kann, dann wünschte ich mir jenen Blitz oder eine andere schreckliche Bestrafung und Buße herbei, forderte sie heraus und haßte den Ort meines Daseins, die Welt, dafür, daß sie mir bewiesen hatte, wie vergeblich alles Tun, also auch die böse Tat im Geiste, ist. Und so ließ ich meine Wut niemals an Tieren aus, ja nicht einmal am Gras, hingegen peitschte ich die Steine, den Sand,
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