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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn.
Autoren: Stanislaw Lem
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Glanzleistung war, denn man kann, von der Physik und der Chemie ausgehend, grundsätzlich jede beliebige Art von organischem Stoffwechsel vorhersehen und berechnen, was man hingegen, von eben dieser Physik und Chemie ausgehend, weder vorhersehen noch berechnen kann, ist eine Kultur, in welcher bestimmte Wesen »Neutrinobriefe« schreiben und abschicken. Diese zweite Erscheinung gehört in einen anderen, außerhalb der Physik liegenden Bereich. Wenn die Zivilisationen in verschiedenen Sprachen zueinander reden, und die Entwicklungsunterschiede zwischen ihnen sind erheblich, extrahieren diejenigen, die »unwissender« sind, aus einer erhaltenen Mitteilung bestenfalls das, oder fast nur das, was daran physikalisch ist oder natürlich, das läuft auf das gleiche hinaus. Sie verstehen nichts weiter. Tatsächlich werden, bei einer entsprechend weiten Fächerung zwischen den Zivilisationen, die gleichen Begriffe, selbst wenn sie in beiden Kulturen sinnvoll sein sollten, ganz und gar unterschiedliche Dinge bedeuten.
    Es wurde unter anderem darüber debattiert, ob die mögliche »Zivilisation der Absender«, die existierte oder die – laut Sinester – nicht mehr am Leben war, eine Ratio besitze. Aber durften wir annehmen, daß sich eine Zivilisation, die sich darum sorgt, was im »nächsten Kosmos«, in dreißig Milliarden Jahren sein wird, von Vernunftgründenleiten lasse? Welches mußten, selbst für eine unerhört reiche Zivilisation, die Kosten sein, die sie in die Geschicke lebender Wesen investierte, um zum Steuermann der großen Kosmogonie zu werden? Was, analog dazu, übrigens auch den »biophilen Effekt« betraf. Man konnte meinen, daß das für sie rational war, daß es also keine von Zivilisation zu Zivilisation invariante Ratio gäbe.
    Wir, ein gutes Dutzend Leute, fanden uns nach der Beratung noch bei Baloyne zusammen und debattierten bis tief in die Nacht hinein – selbst wenn uns Sinester und Learney nicht überzeugt hatten, so hatten sie doch zweifellos Öl in das langsam verlöschende Feuer gegossen. Wir sprachen über das, was Rappaport aufgeworfen hatte. Er ergänzte das Gesagte, umriß es noch genauer, und es entstand ein durchaus unheimliches Bild von gigantischen Biosphären, die in den Kosmos »sendeten«, ohne zu wissen, was sie taten, es war eine uns unbekannte, weitere Phase der Homöostase, der Vereinigung von Lebensprozessen, die, nachdem sie sich die Quellen der Kernenergie zu eigen gemacht hatten, Energieumsätze von Sonnenstärke erreichten. Die Biophilie ihres »Neutrinoexkrements« wurde zu einem ebensolchen Effekt wie die Tätigkeit der Pflanzen, die die Erdatmosphäre mit Sauerstoff angereichert und dadurch anderen Organismen das Leben ermöglicht hatten, ohne die Photosynthese zu kennen – und dennoch hatte uns ja das Gras unwissentlich die Chance gegeben zu entstehen. Der »Froschlaich« und die ganze »informatorische« Seite des »Briefs« verwandelten sich in Produkte eines unendlich verzwickten Metabolismus. Der »Froschlaich« verkehrte sich in eine Art Abfall, in Schlacke, deren Struktur von planetarischen Metabolismen abhing.
    Als ich mit Donald ins Hotel zurückging, sagte er mir mit einemmal, er fühle sich im Grunde genommen betrogen: Die Leine, an der wir im Kreise herumrannten, sei zwarverlängert worden, aber an unserer Situation des Angekettetseins habe sich nichts geändert. Wir seien Zeugen eines recht beachtlichen intellektuellen Feuerwerks gewesen, aber als es heruntergebrannt war, seien wir mit leeren Händen zurückgeblieben. »Vielleicht hat man uns sogar etwas weggenommen«, fuhr er fort, »vorher stand der ›consensus omnium‹ hinter dem ›Brief‹, in dessen Umschlag sich eine Handvoll Sand befand« – so nannte er den »Froschlaich«. »Solange wir daran glauben, daß wir einen ›Brief‹ bekommen haben, wenn auch einen unverständlichen, wenn auch einen rätselhaften, hat das Wissen um die Existenz eines Absenders autonome Bedeutung. Aber wenn sich herausstellt, daß es vielleicht gar kein ›Brief‹ ist, sondern sinnlose Zickzacklinien, dann bleibt uns nichts außer dem Sand … Und wenn der selbst Gold enthielte, fühlen wir uns ärmer geworden, mehr noch: beraubt.«
    Ich dachte noch darüber nach, als er mich schon verlassen hatte. Ich versuchte zu ergründen, woher eigentlich meine Sicherheit rührte, die es mir möglich machte, mit andersartigen, immerhin auf solider Argumentation fußenden Ansichten fertig zu werden? Ich war eben überzeugt davon,
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