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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn.
Autoren: Stanislaw Lem
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niemals ex definitione nachprüfen können, da es dort geschehen werde, wo es nicht nur keinerlei wie auch immer geartete Wesen, sondern auch keine Physik mehr gäbe. Das sei eine Diskussion über ein Leben nach dem Tode, getarnt durch physikalische Terminologie. Oder eine Art »Philosophy Fiction«, analog zur »Science Fiction«. Das mathematische Gewand verhülle den Mythos. Ich sähe darin ein signum temporis, weiter nichts.
    Es versteht sich, daß die Diskussion da erst um sich griff wie ein Feuerbrand. Als sie schon fast erloschen war, erhob sich Rappaport plötzlich »mit noch einer Hypothese«. Sie war so originell, daß ich sie hier anführen will. Er verfocht die These, daß der Unterschied zwischen »Künstlichem« und »Natürlichem« nicht völlig objektiv, nicht etwas absolut Gegebenes, sondern relativ sei und von dem jeweiligen erkenntnistheoretischen Bezugssystem abhänge: »Die Substanzen, die beim Stoffwechsel von lebenden Organismen ausgeschieden werden, halten wir für natürliche Produkte. Wenn ich eine große Menge Zucker esse, werden meine Nieren den Überschuß ausscheiden. Ob der Zucker in meinem Urin ›künstlich‹ oder ›natürlich‹ ist, hängt von meiner Intention ab. Wenn ich absichtlich soviel Zucker gegessen habe, um ihn auszuscheiden, weil ich den Mechanismus der Erscheinung kenne und die Folgen meines Tuns absehen kann, wird er ›künstlich‹ anwesend sein, wenn ich den Zucker aber gegessen habe, weil ich Appetit darauf hatte und nichts weiter, ist sein Vorhandensein ›natürlich‹. Das läßt sich beweisen. Wenn jemand meinen Urin untersucht und ich mich mit ihm entsprechend verabredet habe, kann das Vorhandensein von Zucker, das er aufdeckt, die Bedeutung eines Informationssignals erlangen. Vorhandener Zucker wird zum Beispiel ›ja‹ bedeuten, und das Fehlen von Zucker ›nein‹. Das ist ein Vorgang symbolischer Zeichengebung, der höchst künstlich ist, aber nur zwischen uns
    beiden. Wer unsere Abmachung nicht kennt, wird aus der Untersuchung meines Urins nichts erfahren. Das rührt daher, daß es in der Natur wie auch in der Kultur ›ganz wirklich‹ einzig und allein ›natürliche‹ Phänomene gibt und sie nur dadurch zu ›künstlichen‹ werden, weil wir sie durch Vereinbarung oder unser Handeln auf bestimmte Weise miteinander verbinden. ›Absolut künstlich‹ sind lediglich Wunder, da sie nicht möglich sind.«
    Nach dieser Einleitung holte Rappaport zum Hauptstreich aus. »Einmal angenommen«, sagte er, »die biologische Evolution könnte zweigleisig verlaufen: Entweder sie bringt Einzelorganismen hervor und dann die aus ihnen entstehenden vernunftbegabten Wesen, oder aber – auf der anderen Seite – sie erzeugt ›vernunftlose‹, aber zugleich außerordentlich hochorganisierte Biosphären – nennen wir sie ›Wälder lebenden Fleisches‹ oder eine Vegetation noch anderer Art –, die im Verlaufe einer sehr langen Entwicklung sogar die Kernenergetik beherrschen lernen. Die Evolution beherrscht sie jedoch nicht so, wie wir die Bomben- und Reaktortechniken beherrschen, sondern so, wie unser Körper gelernt hat, den Stoffwechsel ›zu beherrschen‹. Dann wären Erscheinungen vom strahlenerzeugenden Typus Stoffwechselprodukte, und weitergesehen wären sogar die Neutrinoströme solche Produkte, sie würden nur das ›Exkrement‹ solcher Globen und ihrer Organismen darstellen, das wir empfangen – eben in Gestalt des ›Sternencodes‹. Dann würde es sich um einen ganz natürlichen Vorgang handeln, weil die Wesen ja nicht vorhatten, irgendwem irgend etwas zu übermitteln oder mitzuteilen, und jene Teilchenströme sind lediglich das unvermeidliche Resultat ihres Stoffwechsels, eine ›Ausscheidungsstrahlung‹. Doch es kann auch sein, daß Planeten-Organismen etwas vom Vorhandensein jener anderen erfahren, dank solchen im Raum hinterlassenen ›Spuren‹. Dann wäre das eine Art von ›Zeichengebung‹ zwischen ihnen.«
    Rappaport fügte hinzu, diese Hypothese bleibe im Rahmen des für die Wissenschaft typischen Vorgehens; denn die Wissenschaft unterscheide die Phänomene nicht nach »künstlichen« und »natürlichen«, er sei also nach ihren Geboten verfahren. Die Hypothese könne, zumindest im Prinzip, nachgeprüft werden, indem man das Vorhandensein oder auch nur die theoretische Möglichkeit von »Neutrinoorganismen« nachweise, weil sie uns nicht zu »anderen Kosmen« in Beziehung setze.
    Nicht alle begriffen genau, daß das nicht nur eine geistige
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